Barmherzigkeit statt sozialem Ausgleich?

Ein kritischer Blick auf die „Tafelbewegung“
Von Hans-Jürgen Volk

Es war im Juni 1998, als ich einen Freund und seine Familie in Boston besuchte und dabei Gelegenheit hatte, einen Blick in die damaligen sozialen Verhältnisse der USA zu werfen. Damals hatte die Clinton-Administration für wachsende wirtschaftliche Prosperität gesorgt und die Rahmenbedingungen für zahlreiche neue Jobs geschaffen. Der Masse der Menschen ging es deutlich besser als unter den Präsidenten Reagan und Bush Senior. Dennoch waren die krassen sozialen Gegensätze selbst in der „europäischsten“ Region der USA unübersehbar: Ins Auge fiel der alte Mann an der Kasse des Supermarktes, der freundlich die Plastiktüten der Kunden befüllte. Er machte den Eindruck, deutlich über 70 zu sein, wozu gewiss auch seine Zahnlücken beitrugen. Nicht zu übersehen war auch die jüngere Frau in abgerissener Kleidung, die in einer mit zahlreichen Luxusprodukten ausgestatteten Shopping Mall verschämt bettelte, drei kleine Kinder im Schlepptau hatte und mit gehetztem Blick nach den Sicherheitskräften Ausschau hielt mit sichtbarer Angst vor Vertreibung und schlimmeren Sanktionen. Boston ist eine wohlhabende Stadt, doch gab es damals zahlreiche Suppenküchen und Lebensmittelausgaben, vor denen die Menschen Schlange standen. Ich hätte mir damals nie träumen lassen, im Deutschland der angeblich sozialen Marktwirtschaft nur wenige Jahre später ähnliche Verhältnisse vorzufinden.

Zweifellos haben Agenda 2010 und Hartz IV-Gesetzgebung einen Boom der Tafelbewegung ausgelöst. Der hartherzigen und ignoranten Behauptung, Armut sei eigentlich in Deutschland kein größeres Problem, muss die Tatsache vor Augen gehalten werden, dass es mittlerweile fast in jeder deutschen Kleinstadt eine Tafel, eine Suppenküche, oder eine Kleider- und Lebensmittelausgaben an „Bedürftige“ gibt. Die immer noch wachsende Zahl der Tafeln ist eins der deutlichsten Indizien für das Versagen des neoliberalen Politikansatzes.

Dass auf diesem Hintergrund Kirchengemeinden in Verbindung mit zahlreichen Ehrenamtlichen bemüht sind, die politisch verursachte Not zu lindern, ist begrüßenswert und geboten. Geschieht dies allerdings in einer Weise, in der der Verlust an Sozialstaatlichkeit und die unzulängliche Kompensation dieses Missstandes durch christliche Barmherzigkeit sogar als „Erfolg“ dargestellt wird - dies ist z.B. beim Internetauftritt des Bundesverbandes Deutsche Tafeln der Fall - darf sich über Kritik nicht wundern, wie sie hier auf den Nachdenkseiten geäußert wird. Eine so orientierte „Barmherzigkeit“ betreibt tatsächlich dass Spiel derer, die den Sozialstaat durch private Initiative ersetzen wollen.

Frei nach Bonhoeffer: Wer nur die Opfer unter dem Rad verbindet, anstatt dem Rad in die Speichen zu fallen, handelt eher zynisch als barmherzig - vor allem dann, wenn er die wachsende Zahl der Opfer, die er „versorgen“ kann, auch noch öffentlichkeitswirksam als „Erfolg“ deklariert. Natürlich muss den Opfern, die unter das stählerne Rad neoliberaler Politik geraten sind, geholfen werden. Tafeln leisten hier wertvolle „erste Hilfe“. Doch dabei kann  und darf es nicht bleiben.

Dass es anders geht, zeigt ein Blick auf die Stadt Oberhausen im Ruhrgebiet. Der Ev. Kirchenkreis ist Mitinitiator der Oberhauser Tafel, die neben der Ausgabe von Lebensmitteln auch Sozialberatung anbietet. Zugleich unterstützt der Kirchenkreis die Aktion umFairteilen und engagiert sich für den „Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt“.

 

 

 

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