Corona - Keine Gefahr für die Religionsfreiheit!

Warum Zurückhaltung nicht nur bei Gottesdiensten geboten ist
Von Hans-Jürgen Volk

Ein Virus verändert unseren Alltag. Dass weite Teile des öffentlichen Lebens weiterhin ruhig gestellt werden oder nur unter großen Einschränkungen stattfinden können, wird uns noch lange Zeit beschäftigen - mutmaßlich bis in das kommende Jahr hinein.

Dabei ist die Regionsfreiheit in Deutschland nicht gefährdet. Gewiss, wir erleben zahlreiche Restriktionen und sogar vorrübergehende Eingriffe in Grundrechte. Um wirksamen Infektionsschutz zu gewährleisten, gibt es eine Kontaktsperre und Versammlungsverbote. Dies betrifft auch Gottesdienste, die im Moment nicht in gewohnter Weise gefeiert werden können. Das tut weh. Es ist ebenso schmerzlich, wie die Distanz, die z.B. Enkelkinder zu den Großeltern halten sollen. Aber es macht Sinn. Denn man möchte ja, dass die Großeltern noch etliche Jahre leben.

Die Einschränkungen, denen Religionsgemeinschaften unterliegen, betreffen in gleicher Weise andere Bereiche des öffentlichen Lebens. Dem Virus ist es egal, ob bei der Jahreshauptversammlung des Sportvereins oder in einem Gottesdienst 50 Menschen zusammen kommen. Es wird die Chance nutzen, sich zu verbreiten. Jetzt eine Sonderrolle für die Kirchen zu beanspruchen, ist unvernünftig und fahrlässig.

Die evangelische Kirche im Rheinland hat hier besonnen und verantwortungsvoll Position bezogen. Selbst bei Lockerungen von staatlicher Seite aus sieht sie darin keine Pflicht, Präsenzgottesdienste anzubieten. "So sehr uns die Gottesdienste mit unmittelbarem Zusammensein derzeit fehlen: Für uns als Evangelische Kirche im Rheinland ist das oberste Ziel der Schutz der Menschen vor einer potenziell tödlichen Infektion mit dem Coronavirus. Erst wenn wir diesen bestmöglich sicherstellen können, sollten wir wieder Präsenz-Gottesdienste feiern. Und wenn wir bis dahin noch mehr Zeit brauchen, ist das völlig in Ordnung." (So im Corona Newsletter der EKiR Nr.22)

"... ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient." (Philipper 2,4)

Diese Mahnung von Paulus verpflichtet uns als Christen gerade jetzt zur Rücksichtnahme und Achtsamkeit. Wir sollten von uns aus alles tun, um die Gefährdung unseres Nächsten zu vermeiden. Noch einmal: Hierbei geht es nicht um "Regionsfreiheit", die ist nicht in Gefahr. Weltweit stehen zur Zeit Moscheen, Synagogen und Kirchen weitgehend leer. Durchbrochen wird dies lediglich von einigen unbelehrbaren Fundamentalisten. Selbst im Iran bleiben während des Fastenmonats Ramadan die Moscheen geschlossen. Es geht nicht darum, zielgerichtet Religionsgemeinschaften einzuschränken, sondern es geht um Infektionsschutz, der für alle Lebensbereiche einer Gesellschaft Einschränkungen bedeutet. Entscheidend ist zudem, dass die Freiheit der Verkündigung in keiner Weise beeinträchtigt wird. Im Gegenteil: die gottesdienstlichen Angebote in Funk, Fernsehen und Online waren noch nie so vielfältig und umfangreich wie im Moment.

Schutz der "Risikogruppen"

Wie schützt man in der jetzigen Situation am wirksamsten Menschenleben? Antwort: durch rücksichtsvolle Zurückhaltung bei Lockerungen. Für die christlichen Kirchen heißt dies: Selbst, wenn unter Auflagen Präsenzgottesdienste möglich sind, sollte man sorgfältig abwägen, ob man diese auch anbietet. Jede "Lockerung" kann ein erhöhtes Risiko für Menschen bedeuten, die in Heimen, Pflegeinrichtungen oder Massenunterkünften leben. Trotz Ausgangssperren und Besuchsverbot ist beispielsweise ein Altenheim nicht hermetisch von der übrigen Umgebung isoliert. Essen wird vielfach von außen geliefert, die Wäsche wird oft von Externen versorgt, auch Handwerker müssen hin und wieder mal Reparaturen erledigen. Die Beschäftigten können trotz aller Vorsichtsmaßnahmen das Virus in die Einrichtung tragen. Heimbewohnerinnen und -bewohner, Ältere sowie Menschen mit Vorerkrankung schützt man am wirksamsten durch Zurückhaltung bei "Lockerungen" der bisherigen Einschränkungen und durch konsequentes Einhalten der Abstands- und Hygieneregeln. Die Kirchen sollten hier mit gutem Beispiel vorangehen.

Welche Strategie ist die richtige? Wie gefährlich ist das Virus?

Ich bin Theologe mit einem ausgeprägten Interesse für Ökonomie. Von daher bin ich zurückhaltend, was die Beurteilung der Pandemie angeht. Auch gut informierte Theologen sind angewiesen auf das Expertenwissen der Virologen, Mediziner und Hygieniker. Als Theologen können wir jedoch ethisch fundiert Prioritäten setzen. Der Gesundheitsschutz und der Erhalt von Menschenleben hat Vorrang vor der auch bei mir ausgeprägten Sehnsucht nach Präsenzgottesdiensten. Es ist zu begrüßen, dass sowohl die EKD wie die evangelische Kirche im Rheinland dies genauso sehen.

Allerdings sind auch die ökonomischen Folgen im Blick zu behalten. Ein leistungsfähiges Gesundheitswesen ist ebenso wie der Sozialstaat angewiesen auf eine starke ökonomische Basis.

Die nachfolgenden Zahlen sind eine Momentaufnahme in einem dynamischen Prozess. Sie sind dem Dashboard der Johns Hopkins Universität entnommen und geben den Stand vom 26.04. 2020 wieder. Die Zahlen sind leicht auf oder abgerundet. Ein ähnliches Angebot macht das Robert-Koch-Institut für die Entwicklung in Deutschland. Bei aller Vorsicht bei der Interpretation ergeben sich aus dem statistischen Material Hinweise darauf, wie erfolgreich einzelne Staaten mit der Pandemie umgehen und welche Strategien offenbar nicht funktionieren:

   Deutschland  USA  Großbritanien  Italien
 Einwohnerzahl  83 Mio.  328 Mio.  66 Mio.  60 Mio.
 Infektionen  156.500  940.000  150.000  195.300
 Todesfälle  5.877  54.000  20.500  26.400

 

 

 

   Schweden  Norwegen  Spanien  Frankreich
 Einwohnerzahl  10 Mio.  5 Mio.  47 Mio.  67 Mio.
 Infektionen  18.177  7.500  224.000  162.000
 Todesfälle  2.200  200  23.000  23.000

 

 

 

Manchmal wird argumentiert, die Grippewelle 2017/2018 sei schädlicher gewesen, als die jetzige Corona-Infektion, ohne dass es vergleichbare Einschränkungen gegeben hätte. Ein wesentlicher Unterschied, dass es nämlich bei Corona weder einen wirksamen Impfschutz noch eine zugelassene Medikation gibt, wird hierbei unterschlagen. Dennoch beeindruckt es auf den ersten Blick, dass es damals an die 300.000 bestätigte Grippeinfektionen und geschätzte 25.000 Todesfälle in Deutschland gab (Angaben des RKI).

Die Grippewelle von 2017/2018 begann im November 2017 und zog sich hin bis März, April 2018. Die meisten europäischen Staaten haben seit 8-10 Wochen mit dem Corona-Virus zu kämpfen. Noch kürzer ist der Zeitraum in Großbritannien und den USA. Das Virusgeschehen ist noch in vollem Gange. Dennoch hat die Anzahl der Todesfälle in Italien, Spanien oder Frankreich bei deutlich geringerer Bevölkerungszahl die der Grippewelle von 2017/2018 in Deutschland bereits erreicht oder sogar überschritten. Schaut man sich die dramatische Entwicklung der Pandemie in Großbritannien und erst recht in den USA an, verbietet sich jede Verharmlosung der Corona-Infektion.

Schweden wurde bis vor kurzem gerne als Beispiel dafür angeführt, dass die Bekämpfung der Pandemie unter Einhaltung allgemeiner Abstands- und Hygieneregeln ohne größere Einschränkungen im öffentlichen Leben betrieben werden kann. Doch diese Strategie erweist sich mehr und mehr als untauglich. Restaurants und Gaststätten werden im Moment in Schweden geschlossen, da sowohl die Anzahl der Infektionen wie die der Todesfälle ungebremst steigt. Interessant ist der Vergleich mit dem ähnlich strukturierten Nachbarland Norwegen. Dort wurde ähnliche Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens wie in Deutschland ergriffen. Bei der Hälfte der Einwohner muss Norwegen weniger als ein Zehntel der Todesfälle Schwedens beklagen. Auch das Infektionsgeschehen verläuft deutlich kontrollierter. Baden Württemberg gehört neben Bayern und Nordrhein-Westphalen zu den am stärksten von der Corona-Epidemie betroffenen deutschen Bundesländern. Am 26.04. 2020 (Zahlen nach Angaben des RKI) waren dort ca. 31.000 gemeldete Infektionsfälle zu verzeichnen. Das sind tatsächlich ein gutes Drittel mehr als in Schweden. Allerdings verstarben bis dahin in Baden Württemberg 1.250 mit dem Corona-Virus infizierte Menschen, also etwa 1.000 weniger als in Schweden. Auf Deutschland hochgerechnet würde die schwedische Strategie ca. 180.000 nachgewiesene Infektionen und 22.000 Todesfälle bedeuten. Wer für eine Strategie plädiert, wie sie bisher in Schweden praktiziert wurde, nimmt demnach eine deutlich höhere Zahl an Todesopfern in Kauf.

Nicht erwähnt wurden bisher ostasiatische Länder wie Südkorea oder Taiwan. Diese werden oft im Blick auf eine alternative Strategie zu einem Lockdown angeführt. Tatsächlich traten diese Staaten wesentlich besser vorbereitet dem Infektionsgeschehen entgegen, als dies z.B. in Europa oder den USA der Fall war. Hintergrund hierfür sind die Erfahrung von Virus-Epidemien der jüngeren Vergangenheit, die vor allem den ostasiatischen Raum betrafen. Gesichtsmasken gehören dort seit langem zum Alltag auch vor Corona. Es gab in einem ganz anderen Umfang Testkapazitäten und Schutzausrüsten. In dieser Hinsicht war auch Deutschland nicht gut vorbereitet und deswegen gar nicht in der Lage, eine Strategie wie etwa Südkorea zu betreiben.

Dass eine konsequente Lockdown-Strategie auch ökonomisch sinnvoll ist, zeigt ein Blick in das Nachbarland Österreich. Dort waren die Einschränkungen deutlich stringenter als in Deutschland. Auch hielt man dies über einen etwas längeren Zeitraum durch. Dadurch gewann man den Spielraum für weitgehende Öffnungen des öffentlichen Lebens. In Österreich werden nicht nur Geschäfte, sondern auch Gaststätten und Restaurants in absehbarer Zeit geöffnet. Der Reproduktionsfaktor (die Berechnung, in welchem Umfang ein Infizierter weitere Personen ansteckt) liegt dort bei 0,56, in Deutschland ist er kürzlich wieder auf 1 gestiegen. 

Der Wert eines Menschen

Kürzlich hatte ich ein telefonisch geführtes Streitgespräch mit einem Diskussionspartner, den ich im Grunde außerordentlich schätze. Er gehört zu denen, die die jetzigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens für überzogen und schädlich halten. Ich wies auf die Situation in einem Altenpflegeheim in unserem Landkreis hin, das vor kurzem eine Corona-Ausbruch zu ertragen hatte. Dies führte bis heute zum Tod von 8 Heimbewohnern. "Das waren doch alles Menschen über 80 mit Vorerkrankungen." sagte er. "Die letzte Person, die es traf, war 97, die wäre doch auch so bald gestorben." Es sind Aussagen wie diese, die mich zutiefst erschüttern, gerade dann, wenn sie von intelligenten, gut informierten Menschen gemacht werden. Denn indirekt werden so Menschen nach Alter und Gesundheitszustand bewertet und bei negativer Bilanz für verzichtbar und entbehrlich erklärt.

Die Ideologien des 20. Jahrhunderts waren bereit, um des vermeintlichen Gemeinwohls willen einzelne Menschen ihn großer Zahl zu opfern. Aus meiner Sicht ist es ein beachtliche zivilisatorischer Fortschritt, dass im 21. Jahrhundert Wert und Würde des einzelnen Menschen deutlich höher geachtet wird.

 

 

 

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