Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung.
Porträt einer unerschrockenen Frau.

Von Paul Gerhard Schoenborn
Vortrag in Solingen-Ohligs am 22. März 2012

Kurz vor Weihnachten 2010 bekam ich plötzlich den Anruf einer früheren Mitstudentin: „Sagt Dir der Name ‚Elisabeth Schmitz’ etwas?“ „Ja, natürlich, das ist doch die Frau aus der Bekennenden Kirche (BK) mit der Denkschrift über die Judenverfolgungen im Dritten Reich.“ Während wir miteinander redeten, erinnerte ich mich, dass 1983/84 eine Kopie dieses Dokuments aus dem Jahre 1935 auf meinem Schreibtisch gelegen hatte, allerdings, wie der Archivar darauf vermerkt hatte, hieß die Verfasserin Marga Meusel und nicht Elisabeth Schmitz. Von Marga Meusel, einer Berliner Fürsorgerin, gab es auch noch eine - etwa gleichzeitig entstandene - andere Denkschrift zur Situation getaufter evangelischer deutscher Juden, auch die hatte ich damals zur Hand, also zwei verschiedene Texte von Marga Meusel. Im Herbst 2010 war eine umfangreiche Biographie von Manfred Gailus, einem Berliner Professor für Zeitgeschichte, in Göttingen erschienen: „Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz“. Ich hatte eine Rezension dazu gelesen.

„Du musst zusehen, dass das Buch in Transparent rezensiert wird, es ist sehr wichtig,“ ging das Telefonat weiter. Die Freundin hatte das Buch schon gelesen und fand es außerordentlich bewegend: „Diese mutige und klarsichtige Frau! Und die feigen Männer in der Bekennenden Kirche! Die haben nicht auf sie gehört und sie auch nach 1945 totgeschwiegen! Einige davon waren meine Lehrer, die ich bis jetzt immer verehrt habe. So eine große Enttäuschung! Was habe ich für eine Wut! Die Bücher von Ernst Wolf und Karl Barth möchte ich am liebsten wegwerfen.“ Sie redete sich am Telefon in Rage.

Und mir fiel dabei ein: Auf der Synode der BK der Altpreußischen Union in Berlin-Steglitz Mitte September 1935, wenige Tage nach den berüchtigten Nürnberger Rassegesetzen hatte es hinter den Kulissen unter den leitenden Brüdern einen großen Streit darüber gegeben, in welcher Weise sich die BK zu dieser Diskriminierung der Juden äußern sollte. Mit Mühe konnte verhindert worden, dass eine Erklärung zur Abstimmung kam, die dem damaligen Staat das Recht zur gesetzlichen Regelung der Judenfrage im staatlichen Bereich ausdrücklich zugestand. Aber im Gegenzug wurde auch ein entschlossenes Wort zur Verteidigung der immer rechtloser gemachten jüdischen deutschen Staatsbürger verhindert. - Daran dachte ich.

Zumindest einigen Synodalen war zuvor eine erste, kürzere Fassung einer Denkschrift von Elisabeth Schmitz „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ zugegangen. Es wird daher gemutmaßt, dass unter den Empfängern auch Bonhoeffers enger Freund Franz Hildebrandt gewesen sein könnte. Dann hätte wohl auch Bonhoeffer Kenntnis von der Schrift und ihrem brisanten Inhalt gehabt. Sein berühmtes Diktum: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“, von dem man nicht genau weiß, wann er es geprägt hat, könnte in diesem Zusammenhang entstanden sein.

Die Freundin beschwor mich, mitzuhelfen, dass man sich in der evangelischen Kirche endlich auch an diese Elisabeth Schmitz erinnert. Sie erwähnte, sie habe einen kleinen Lehrfilm vorliegen, gedreht von einem amerikanischen Professor. Den bat ich sie, mir auszuleihen. Eine Buchvorstellung der Biographie von Manfred Gailus konnte unverzüglich in Transparent erscheinen.

Wer war Elisabeth Schmitz?

Geboren wurde sie am 23. August 1893 in Hanau. Sie starb vierundachtzigjährig am 10. September 1977 in Offenbach am Main. Ihr Vater war Lehrer am Hanauer Gymnasium, Kirchenältester und ehrenamtliches Mitglied der Leitung einer größeren Hanauer diakonischen Einrichtung. Sie hatte noch zwei ältere Schwestern. 1914 legte sie das Abitur ab. Anschließend studierte sie bis 1920 an den Universitäten Bonn und Berlin Theologie, Germanistik und Geschichte – unter anderem bei den beiden berühmten Gelehrten Adolf von Harnack und Friedrich Meinecke. Sie blieb mit beiden auch später in freundschaftlichem persönlichen und brieflichen Kontakt. Die Harnacktochter Elisabet war viele Jahre ihre „beste Freundin“. Wie ihre beiden akademischen Lehrer gehörte auch sie zu den „Freunden der Christlichen Welt“, der liberalen protestantischen Wochenzeitung. 1920 promovierte sie bei Friedrich Meinecke (über Edwin von Manteuffel, den „preußischen Militärführer und politisch reaktionären Berater Friedrich Wilhelms IV im Revolutionsjahr 1848“ – so Manfred Gailus). Vom Wintersemester 1921/22 bis zum Wintersemester 1923/24 war sie als „Fräulein Dr. phil.“ Für das Fach Theologie eingeschrieben.

Im Jahre 1921 schloss sie das Studium mit dem Ersten Staatsexamen in Berlin ab. Sie gehörte damit zur ersten Generation von Frauen in Deutschland, die studieren konnten und denen – wenn auch zunächst noch in engen Grenzen – eine eigenständige berufliche Tätigkeit mit akademischem Abschluss offen stand. Gemäß der Personalabbauverordnung vom 27. Oktober 1923 musste eine Frau im öffentlichen Dienst jedoch unverheiratet bleiben und konnte so keine eigene Familie gründen.

Sie wurde wissenschaftliche Hilfskraft und arbeitete auch noch Jahre später immer wieder im Institut von Professor Meinecke. Daneben leistete sie das Referendariat für das Lehramt an Höheren Schulen ab und unterrichtete anschließend sechs Jahre lang an verschiedenen Berliner Schulen. Schließlich wurde sie 1929 am Luisengymnasium, einer Mädchenschule in Berlin-Mitte als Studienrätin angestellt. Ab 1933 erlebte sie, wie jüdische oder politisch unliebsame Lehrerinnen und Lehrer aus den Schulen entfernt wurden. Dazu zählte auch die sozialdemokratische Direktorin ihrer Schule. Mit dem neuen Direktor bekam Elisabeth Schmitz wegen ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus bald Schwierigkeiten. 1935 wurde sie an ein Gymnasium in Berlin-Lankwitz versetzt.

Elisabeth Schmitz gehörte seit 1933 dem Kirchenvorstand der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche an und stand mit dem Gemeindepfarrer Gerhard Jacobi, dem späteren Bischof von Oldenburg, und den Dahlemer Pfarrern Franz Hildebrandt und Helmut Gollwitzer – alle drei wichtige Personen innerhalb der Bekennenden Kirche - in enger Verbindung. 1934 schloss sie sich der Bekennenden Kirche an, also gleich in der stürmischen Anfangsphase dieser innerkirchlichen Oppositionsbewegung. Sie gehörte zu Helmut Gollwitzers „Dogmatischer Arbeitsgemeinschaft“ in Berlin-Dahlem, in der unter anderem Karl Barths damals im Entstehen begriffene Kirchliche Dogmatik besprochen wurde. Zwischen 1940 und 1942 arbeitete sie mit dem Bekenntnispfarrer Wilhelm Jannasch in Berlin-Friedenau zusammen, besuchte Juden und gab ihnen in deren Wohnungen Taufunterricht. Dazu später ausführlicher. Seit 1928 war sie übrigens Mitglied der – heute würde man dazu wertend sagen: „linkspazifistischen“ - Deutschen Sektion der Vereinigung für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen, einer ökumenisch ausgerichteten Gruppierung, deren Jugendsekretär für Mittel- und Südosteuropa Dietrich Bonhoeffer war. Sie kannte Karl Barth persönlich, korrespondierte mit ihm, wobei es immer um die Rolle der Kirche angesichts der NS-Judenpolitik ging, und besuchte ihn mehrfach in der Schweiz.

Zusammenfassend kann man sagen: Elisabeth Schmitz war Ausgangs der Weimarer Republik eine hoch gebildete, historisch-kritisch und theologisch geschulte Intellektuelle, eine gestandene Frau, die im direkten Kontakt zu einer Reihe von überaus bedeutenden deutschen Historikern und Theologen stand. Sie engagierte sich in der Bekennenden Kirche. Sie zeichnete sich aus durch eine eindeutige christliche und humanistische Position und war von einem unbeugsamen Wahrheitsethos beseelt.

Sie ließ sich deshalb auch als beamtete Studienrätin nicht mit dem NS-Staat ideologisch „gleichschalten“ – ganz im Gegenteil: Neue Lehrpläne im Jahr 1938 gaben den Lehrern als oberstes Erziehungsziel die „Formung des nationalsozialistischen Menschen“ vor. Dem konnte und wollte Elisabeth Schmitz nicht nachkommen. Die Reichspogromnacht 1938 gab den letzten Anstoß. Was sie miterleben musste und was sie wissenschaftlich bisher und auch jetzt dokumentiert hatte, trieb sie in eine tiefe seelische Krise und ein physisches Erschöpfungssyndrom. Wegen ihrer schweren leibseelischen Erkrankung war es ihr zunächst unmöglich, ihrem Schuldienst nachzukommen. Und ihr wurde klar: Ab jetzt wollte sie diesem Staat nicht mehr als Beamtin dienen. Die damals 45-jährige suchte zum 31. Dezember 1938 um Versetzung in den Ruhestand nach. In ihrem Antrag schrieb sie wörtlich: „Es ist mir in steigendem Maße zweifelhaft geworden, ob ich den Unterricht bei meinen rein weltanschaulichen Fächern – Religion, Geschichte, Deutsch – so geben kann, wie ihn der nationalsozialistische Staat von mir erwartet und fordert.“ Wider Erwarten wurde dem Gesuch anstandslos stattgegeben und ihr eine dem Dienstalter entsprechende Pension zuerkannt.

Empörung über den 9. November 1938

Wie sehr die Reichspogromnacht sie empört hatte, zeigt ein Brief, den sie an den jungen Pfarrer Helmut Gollwitzer in Berlin-Dahlem schrieb. Er gehörte damit zu den an zwei Händen abzählbaren evangelischen Pfarrern, die sich von der Kanzel kritisch zur „Reichskristallnacht“ äußerten. Elisabeth Schmitz war mit ihrer jüdischen Freundin bei dieser denkwürdigen Predigt zugegen und dankte Helmut Gollwitzer in ihrem Brief von Herzen für seine mutigen und aufrüttelnden Worte. Gleichzeitig formulierte sie geradezu prophetisch, worauf die Judenpolitik des Dritten Reiches hinauslief. Hier ein Auszug aus diesem Brief:

„Als wir zum 1. April 33 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmer­kästen, zu der satanischen Hetze der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte „Gesetze“, zu den Methoden von Buchenwald ‑ da und tausendmal sonst sind wir schuldig geworden am 10. November 1938 ‑ Und nun? Es scheint, dass die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überlässt, ob er etwas sagen will, und was. [ ... ]

Kommen tut nach Ankündigung der Regierung zweifellos die völlige Trennung zwischen Juden und Nichtjuden. Es gehen Gerüchte um ‑ und Derartiges hat auch in ausländischen Zeitungen gestanden ‑ dass ein Zeichen an der Kleidung beabsichtigt sei. Unmöglich ist nichts in diesem Lande, das wissen wir. [ ... ] Wir haben die Vernichtung des Eigentums erlebt, zu diesem Zweck hatte man im Sommer die Geschäfte bezeichnet. Geht man dazu über, die Menschen zu bezeichnen ‑ so liegt ein Schluss nah, den ich nicht weiter präzisieren möchte. Und niemand wird behaupten wollen, dass diese Befehle nicht ebenso prompt, ebenso gewissenlos und stur, ebenso böse und sadistisch ausgeführt würden wie die jetzigen. Ich habe schon diesmal von grauenhaften blutigen Exzessen gehört. Die Presse der ganzen Welt ist voll von dieser Katastrophe, und hier hat man den Eindruck, dass sie schon jetzt, wo die zahllosen Verhaftungen noch andauern, bei den Menschen wieder vergessen wird, auch in kirchlichen Kreisen. Darf die Kirche das zulassen? Ich bin überzeugt, dass ‑ sollte es dahin kommen ‑ mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.  (Auszug aus dem Brief von Dr. Elisabeth Schmitz vom 24. November 1938 an Pfarrer Helmut Gollwitzer, Berlin-Dahlem)

Die Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“

Ich komme nun zu ihrer Denkschrift von 1935/36 „Zur Lage der deutschen Nichtarier“. Wie kommt eine deutsche Beamtin dazu, solch ein Dokument zu verfassen? Gleich nach der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 wurden die Juden in Deutschland drangsaliert und verfolgt. Die Menschen im Deutschen Reich, die „Volksgenossen“, damals noch mehrheitlich Mitglieder der evangelischen Kirche, nahmen das ohne wesentlichen Protest hin. Es gehörte für sie zu der neuen Zeit, die jetzt angebrochen war, zu den neuen Saiten, die der Hitlerstaat aufzog. Die meisten schauten einfach weg und wollten nichts Genaueres wissen. Sehr viele hielten die ständig fortschreitende Entrechtlichung der Juden für völlig korrekt und notwendig – sie entsprach ja neugeschaffenem staatlichem Recht, und dem Staat hatte man zu gehorchen. Kirchenleute hielten gelegentlich – das belegen Texte - die angewandten Methoden für zu brutal und plädierten für eine gewisse Mäßigung, was immer sie sich darunter vorstellten. Humane Ethik und bürgerliches Recht, die das Wohlergehen von Mensch und Gesellschaft schützen, hatten sich im Deutschen Reich verflüchtigt.

Elisabeth Schmitz aber hat zahlreiche jüdische Freunde und Bekannte und leidet stark unter dem, was sie nun miterleben muss. Das, was sie in persönlichem Kontakt mit deutschen Juden erfährt, die sie wertschätzt und zu denen sie nicht wie die Mehrzahl der Deutschen den Kontakt abbricht, lässt sie eine aktive, kritische und solidarische Position beziehen und konkret handeln. Sie hilft jüdischen Menschen, nicht nur Freunden, sondern auch Unbekannten persönlich, wo und wie sie kann. Und sie findet es als evangelische Christin skandalös, dass ihre Kirche dazu schweigt und wegschaut von dem, was der deutsche Staat und was deutsche Menschen ihren jüdischen Mitbürgern antun. Sie findet es einfach unerträglich. Weil sie ein Herz voller Mitleid mit konkreten Menschen hat, wird sie aktiv. Und weil sie ihre Kirche bewegen will, einen mutigen Schritt vorwärts zu gehen, wird sie aktiv.

Eine ihrer engen Freundinnen, die jüdische Ärztin Dr. Martha Kassel, verliert bereits 1933 ihre Kassenzulassung und damit ihre ökonomische Existenz. Elisabeth Schmitz nimmt sie bei sich auf. Wegen dieser Wohngemeinschaft mit einer Jüdin wird sie im Herbst 1937 vom Blockwart der NSDAP denunziert und von der Partei vernommen. Die Gauleitung fordert von der vorgesetzten Behörde ihre sofortige Entlassung aus dem Schuldienst. Die Behörde schlägt jedoch die Sache nieder. Martha Kassel zieht, um ihre Freundin nicht in Konflikte mit ihrer Behörde zu bringen, zu ihrem Freund, einem jüdischen Arzt, den sie heiratet und mit dem sie in die USA emigriert. Die enge Freundschaft der beiden Frauen bleibt bestehen.

Elisabeth Schmitz hat als Historikerin exakte Arbeitsmethoden gelernt. Sie beginnt, genau dokumentierte Fakten der Diskriminierung für eine Denkschrift über die Lage der Juden unter den Nationalsozialisten zu sammeln. Noch einmal: Ihr Beweggrund ist ein doppelter: zum einen tiefes menschliches Mitleid und ethische Empörung darüber, was sie in ihrem Umfeld miterleben muss, zum anderen ihre Entrüstung darüber, dass die evangelische Kirche im Ganzen die Judenverfolgungen als staatliche Maßnahme billigt und dass auch die innerkirchliche Opposition in dieser Sache schweigt, nicht nur aus taktischen Gründen, sondern offensichtlich auch, weil sie elementare Glaubenswahrheiten ignoriert.


Elisabeth Schmitz ordnet ihre Stoffsammlung in drei große Kapitel:

Erstens: Die innere Not - Aufhetzung der öffentlichen Meinung und die Folgen.

Sie beginnt mit der Feststellung: „Im Namen von Blut und Rasse wird seit stark zwei Jahren die Atmosphäre in Deutschland unaufhörlich planmäßig vergiftet durch Hass, Lüge, Verleumdung, Schmähungen niedrigster Art in Reden, Aufrufen, Zeitschriften, Tagespresse, um die Menschen zu willigen Werkzeugen dieser Verfolgung zu machen. Einige wenige Beispiele seien zum Beweis angeführt.“
Ich zitiere nur eins ihrer sehr krassen Beispiele: „Aus dem Telegramm einer Kundgebung von 500 Ärzten aus Mittelfranken »der deutschstämmigen Ärzteschaft der ehemals »roten Judenhochburg Fürth« an Reichsinnenminister Frick vom 1. 12. 34: »Als natürliche Folge ihrer weltanschaulichen Schulung durch Gauleiter Streicher ... gestatten sich die hier Versammelten an Sie die Bitte zu richten, baldigst dem schon in Kraft befindlichen Arier- und Erbgesundheitsgesetz den selbstverständlichen natur- und volksnotwendigen Abschlussparagraphen folgen zu lassen des Inhalts, dass jede versuchte körperliche Gemeinschaft zwischen deutscher Frau und Judenstämmling genau so wie die vollzogene mit schwerster Strafe geahndet wird, bei der deutschen Frau mit der Aberkennung der deutschen Staatszugehörigkeit, Verbringung in ein Arbeitslager und bei vollzogener körperlicher Gemeinschaft mit einem Judenstämmling mit Unfruchtbarmachung, beim Judenstämmling mit ebenfalls sofortiger Aberkennung der deutschen Staatszugehörigkeit, mit Beschlagnahme seines ganzen Vermögens, mit mindestens 5 Jahren Zuchthaus und nachheriger sofortiger Ausweisung aus Deutschland als unerwünschter Fremdrassiger. ... Das deutsche Volk bleibt nur am Leben, wenn es ab sofort seelisch (!) und körperlich rassisch rein erhalten wird.« Das wird es nur, »wenn ab sofort ... praktisch jede weitere jüdisch-rassische Vergiftung und Verseuchung des deutschen Blutes verhütet wird ... Und wer das deutsche Volk vergiftet, begeht Landesverrat ... «“

Der Kommentar von Elisabeth Schmitz: . Das Gewerbe des Ehrabschneiders und Verleumders gilt von jeher mit Recht als das erbärmlichste und verächtlichste. Und abgesehen von der menschlichen Verurteilung - sollte nicht auch uns das achte Gebot gelten? Und sollte es nicht der Kirche aufgetragen sein, angesichts der unaufhörlichen Übertretung des Gebotes zu reden und nicht zu schweigen?“

Auch die Folgen der Verhetzung dokumentiert sie mit konkreten Beispielen. Nur eins führe ich hier an: „Der »Lübecker Volksbote« vom 27. 3. 35 meldet, dass ein Jude von einer Menschenmenge aus dem Büro geholt und zur Wache gebracht wurde. Es wurden ihm Schilder umgehängt: »Ich bin ein Vampyr und sauge das Blut des deutschen Arbeiters ... « Die Menge zog unter dem Gesang nationalsozialistischer Lieder und Rufen: »Deutschland erwache!« und »Juda verrecke!« durch die Straßen. Der Mann wurde in Schutzhaft genommen. - Das Blatt hat die Stirn, dazu zu bemerken: »Der Jude Lissauer aber soll sich für die durch den Nationalsozialismus anerzogene Diszipliniertheit der Volksmassen bedanken, die nur das taten, was richtig war, nämlich ihn der Polizei - wenn auch auf eine nicht gewöhnliche Art - zu überantworten.«“

In gleicher Weise dokumentiert und kommentiert sie die Lage jüdischer Kinder: „Was soll aus den Seelen dieser Kinder werden, und was aus einem Volk, das solche Kindermartyrien duldet? Und was aus der Jugend dieses Volkes, die in solcher Luft aufwächst?“ Und sie zeigt, was – wie man damals sagte „gemischtrassische“ -  Eheleute erleiden, deren Verbindung hetzerisch als „Blutschande“ verleumdet wird.

Elisabeth Schmitz resümiert „Die Lage ist verzweifelt. Sie ist angesichts dieses Meeres von Hass, Verleumdung, Gemeinheit verzweifelt nicht nur für die, die es trifft, sondern noch viel mehr für das Volk, das dies alles tut und geschehen lässt. Die Bekennende Kirche hat sich feierlich zu ihrem Wächteramt nach Hesekiel 3 be­kannt. Will sie sich nicht erbarmen über ihre Glieder und ihren Wächter­ruf erschallen lassen, um Augen zu öffnen und Gewissen wachzurütteln? Der Feind die Vergötzung von Blut und Rasse - steht drohend unmittelbar vor der Mauer und wohl schon nicht mehr vor der Mauer. … Wer ruft die Gemeinden und unser ganzes Volk zurück zu dem, nach dem alles Christentum sich nennt? Zu dem, der seiner Kirche gerade den Samariter, den »artfremden«, verachteten »Mischling« als das große Beispiel der Barmherzigkeit, des praktischen Christentums hinstellt? Zu dem, der gesagt hat: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst - und gegen dessen Gebote es sich empört? Und wer von uns wagt, sich zu sondern von seinem Volk, das diese Schuld auf sich lädt? Dieses Volkes Schuld ist auch unsere Schuld.

Zweitens: Die äußere Not - Existenzbedrohung, Berufsnot, Boykott, Schule.

Ausführlich geht Elisabeth Schmitz in diesem Kapitel darauf ein, wie den deutschen Juden die materiellen Lebensgrundlagen entzogen werden. Dabei diagnostiziert sie hemmungslosen Konkurrenzkampf und schieren Berufsneid als zusätzliche Hintergründe der rassistischen Judenpolitik. Das erstaunt bei einer vom Studium her ideengeschichtlich orientierten Historikerin. Aber Elisabeth Schmitz ist durch die unmittelbar ökonomischen Zwangslagen ihrer jüdischen Freunde für diese materialistische Betrachtungsweise sensibilisiert worden:

„Man nimmt also durch grausame Gesetze den Menschen die Erwerbsmöglichkeit, man zieht die Schlinge langsam immer enger zu um sie allmählich zu ersticken, man weiß, sie werden verelenden … Es ist wohl deutlich, dass es sich um einen wütenden Konkurrenzkampf handelt, in dem der Schwächere brutal zu Boden getreten wird. Dass Auswanderung nur für einen relativ sehr kleinen Teil überhaupt in Betracht kommen kann, ist bei der Weltkrise und Weltarbeitslosigkeit selbstverständlich, noch dazu bei den Devisenbestimmungen, die wir haben. Zur Zeit ist Auswanderung so gut wie ausgeschlossen. Und wenn Eltern hier Millionen besitzen sollten - ihre Kinder im Ausland, die hier keine Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeit haben und draußen auf Unterstützung angewiesen sind, können verhungern. Es besteht keine Möglichkeit, von Italien und der Schweiz abgesehen, ihnen Geld zukommen zu lassen. … Es ist keine Übertreibung, wenn von dem Versuch der Ausrottung des Judentums in Deutschland gesprochen wird. Es ist von Anfang an gesagt worden, man brauche keine Bartholomäusnacht, man habe »andere Methoden«. Gewiss, es ist keine blutige Verfolgung im Sinne des Mittelalters, wo zum Beispiel in Nürnberg zweimal die gesamte jüdische Gemeinde ermordet worden ist mit Frauen und Kindern, sodass nicht ein einziger entkommen ist. Aber auch unblutige Verfolgungen haben oft tödliche Wirkungen. Wir haben keine Verlustlisten dieser Verfolgung. Aber wir müssen uns klar machen, dass bereits Hunderte, vielleicht noch sehr viel mehr Menschenleben dieser Verfolgung zum Opfer gefallen sind. Wer will ermessen, wie viele Todesopfer die Verelendung, die namenlosen unaufhörlichen Aufregungen schon verlangt haben? Wie viele von denen, die schon fern der Heimat sterben mussten, Opfer dieser Verfolgung sind? Und die vielen, die die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und die unaufhörlichen Ehrenschändungen nicht ertragen konnten? Der Vorsitzende des Reichsverbandes der nichtarischen Christen sagte in einem Vortrag: »Jeder von uns weiß aus seinem Bekanntenkreise, dass manchem und sicher nicht dem Schlechtesten die Kraft gefehlt hat, dieses Leben der seelischen Entrechtung mit ihren furchtbaren Folgen der Wirtschaftskatastrophe für Frau und Kinder noch weiter zu ertragen.« (»Wir nichtarische Christen« S. 23).

Aus Schweden ist zu Anfang einmal das vernichtende Wort berichtet worden: »Die Deutschen haben einen neuen Gott, das ist die Rasse, und diesem Gott bringen sie Menschenopfer.« Wer wagt, dies Wort Lügen zu strafen?

Was sollen wir antworten einst auf die Frage: Wo ist Dein Bruder Abel? Es wird auch uns, auch der Bekennenden Kirche keine andere Antwort übrig bleiben als die Kainsantwort.“

Drittens: Die Stellung der Kirche.

Abschließend wendet sich Elisabeth Schmitz an die Adressaten ihrer Denkschrift. Sie versucht, die verantwortlichen Männer der Bekennenden Kirche aufzurütteln. Es ist ein Bußruf und ein Schrei nach Solidaritätsaktionen:

Warum tut die Kirche nichts? Warum lässt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder richten? Warum schützt sie nicht wenigstens die Kinder? Sollte denn alles das, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein? Und wenn die Kirche aus Angst vor ihrer völligen Zerstörung in vielen Fällen nichts tun kann, warum weiß sie dann nicht wenigstens um ihre Schuld? Warum betet sie nicht für die, die dies unverschuldete Leid und die Verfolgung trifft? Warum gibt es nicht Fürbittegottesdienste, wie es sie gab für die gefangenen Pfarrer? Die Kirche macht es einem bitter schwer, sie zu verteidigen.

Menschlich geredet bleibt die Schuld, dass alles dies geschehen konnte vor den Augen der Christen, für alle Zeiten und vor allen Völkern und nicht zuletzt vor den eigenen künftigen Generationen auf den Christen Deutschlands liegen. Denn noch sind fast alle Glieder des Volkes getauft, und noch trägt die Kirche Verantwortung für Volk und Staat, anders als zu Zeiten des alten römischen Reiches, denn es sind ihre getauften Glieder, die all den Jammer und all das Elend auf dem Gewissen haben.

Aber die Kirche hat ihren Auftrag nicht von Menschen und ist nicht Menschen und Zeiten verantwortlich, sondern dem ewigen Gott. Sie hat dem Volk, in das sie gestellt ist, das Wort und den Willen Gottes zu verkünden, und sie hat ihm auch dadurch zu dienen, dass sie zugleich für sich und stellvertretend für das Volk Buße tut für das, was geschehen ist und fortdauernd geschieht. Sie muss ihre Glieder und vor allem ihre besonders gefährdete Jugend zu bewahren suchen vor schwerer Sünde und Schuld. Sie hat den Gehorsam gegen alle Gebote Gottes zu verkünden, wenn sie nicht dem Wort verfallen will: »Sein Blut will ich von Deiner Hand fordern«.

1936 verfasst Elisabeth Schmitz noch einen längeren Nachtrag, hauptsächlich über die Auswirkungen der Nürnberger Rasse-Gesetze vom September 1935. Ich zitiere aus ihrer möglicherweise dann erst formulierten Einleitung:

„In dem »Wort an die Obrigkeit« der Augsburger Bekenntnissynode (Die dritte Reichsbekenntnissynode fand in Augsburg vom 4. bis 6.Juni 1935 statt. PGS) steht der Satz: »Wir müssen aber mit ehrerbietigem Ernst darauf hinweisen, dass Gehorsam im Widerspruch gegen Gottes Gebot nicht geleistet werden darf.«

Aus der Weltanschauung aber, die auf dem Mythos von Blut und Rasse beruht, und die die Grundlage des heutigen Staates, seiner Gesetze und gesamten Lebensäußerungen bildet, steigt in unzähligen Gestalten die Versuchung, ja die Forderung zum Ungehorsam gegen Gottes Gebote auf.

Es gibt einzelne Gebiete des staatlichen Lebens, die wir vor andern mit angstvoller Sorge betrachten, da in ihrer gesetzlichen Regelung die Verletzung der Gebote konstitutiv enthalten ist.

Aus diesen Gebieten sei hier die Ariergesetzgebung und der ganze, mit ihr in Zusammenhang stehende Bereich herausgegriffen.

Vor nunmehr bald zweieinhalb Jahren ist eine schwere Verfolgung hereingebrochen über einen Teil unseres Volkes um seiner Abstammung willen, auch über einen Teil unserer Gemeindeglieder. Die unsagbare äußere und wohl noch größere innere Not, die diese Verfolgung über die Betroffenen bringt, ist weithin unbekannt und damit auch die Größe der Schuld, die das deutsche Volk auf sich lädt.

Ich fasse zusammen: Der Aufbau der Denkschrift ist klar und deutlich und verrät die methodische Eindeutigkeit einer guten Lehrerin: Jeweils nach der Zusammenstellung der Fakten wertet sie diese theologisch und drängt auf Konsequenzen der Kirche. Als Religionslehrerin verfügt sie über klare und elementare theologische Denkstrukturen: Die Judenpolitik des Dritten Reiches missachtet alle Zehn Gebote Gottes. Das weist sie in allen ihren Beispielen nach. Ferner: Der Blut- und Bodenmythos und die Rassenideologie sind Ausdruck einer Religion, die Menschenopfer verlangt und produziert. Als engagierte Christin, die sich für ihre Kirche und für ihr Volk verantwortlich fühlt, fordert sie von den kirchenleitenden Männern und Gremien politische Konsequenzen. Wie man damals sagte: Sie fordert, dass die Kirche ihr „Wächteramt“ in Volk und Staat wirksam ausübt. Damit wendet sie an, was in der berühmten Barmer Erklärung von 1934 in These V proklamiert worden war: dass nämlich der Staat nach Gottes Wort ausschließlich die Aufgabe hat, für Recht und Frieden zu sorgen und dass die Kirche immer wieder sowohl die Regierenden wie auch die Regierten an die Verantwortung dafür erinnern muss. Elisabeth Schmitz leidet zutiefst darunter, mit anschauen zu müssen, dass das deutsche Volk - Regierende und Regierte – damals immerhin mehrheitlich evangelische Christen – immer tiefer in einen ungeheuren Sündenzusammenhang hinein gerät, und dass die evangelische Kirche, vorab die Bekennende Kirche, übergroße Schuld auf sich lädt, weil sie nicht mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln dagegen angeht und das deutsche Volk aufrüttelt und warnt.

Elisabeth Schmitz sieht prophetisch-deutlich, wo das alles enden wird, was man den Juden antut: in ihrer physischen Vernichtung. Und als historisch-kritisch denkende Wissenschaftlerin erkennt und benennt sie nüchtern, aber mit Abscheu, die materiellen, ökonomischen Motive bei Berufsverboten und Enteignungen, die die Juden in Deutschland treffen und wovon die Arier profitieren. Zu dem ideologischen Überbau des rassistischen und politischen Antisemitismus gehört ein starker materialistischer, kapitalistischer, auf Enteignung und persönliche Bereicherung abzielender Unterbau.

Eine erste Version ihre Denkschrift schließt sie, wie gesagt,  vor dem September 1935 ab. Sie verschweigt bewusst ihren Namen als Verfasserin, sie ist ja Berufsbeamtin und muss mit Sanktionen rechnen, wenn sie mit der Schrift in Verbindung gebracht würde. Nach der Verkündigung der Nürnberger Rassegesetze fügt sie über deren konkrete Auswirkungen eine mehrseitige Ergänzung an und formuliert ein Vorwort. Sie besorgt sich ein einfaches Vervielfältigungsgerät und stellt von der Endfassung eigenhändig ungefähr 200 Exemplare der vierundzwanzigseitigen Schrift her. Sie übergibt sie den Mitgliedern der Vorläufigen Leitung und der Landes- und Provinzialbruderräte der Bekennenden Kirche, und einzelnen Theologen, denen sie vertraute.

Pfarrer Wilhelm Niesel, damals Ausbildungsreferent der Bekennenden Kirche und damit Vorgesetzter Dietrich Bonhoeffers, erhält von ihr eine gewisse Anzahl zur Verteilung in einer Ausschusssitzung. Ob er den Mut hatte, dieses mit dem brisanten Papier zu tun? Eberhard Bethge vermutet, Bonhoeffer, wohl ohne Kenntnis der Autorin, habe ein Exemplar seinem Londoner Kollegen Rieger zukommen lassen.

Auf der Steglitzer Bekenntnissynode der Altpreußischen Union im September 1935 vermeidet man jedoch eine Beschäftigung mit dem brisanten Dokument. Gründe? ….

Keiner der führenden BK-Theologen bezieht sich – sowohl vor wie nach 1945 – auf diese Denkschrift. Gründe? …

Keiner der führenden BK-Theologen, zum Beispiel Karl Barth und Helmut Gollwitzer, erinnern sich nach 1945 ihrer öffentlich. Wilhelm Niesel, der eine ausführliche Geschichte des Kirchenkampfs in der Altpreußischen Union verfasst, schweigt völlig über den Text der Denkschrift und die Person  von Elisabeth Schmitz, die ihm doch persönlich eine Anzahl Exemplare zur Weitergabe übergeben hatte. Gründe? …

Wilhelm Niemöller. der große Historiker des Kirchenkampfes, Bruder von Martin Niemöller, ordnet das anonyme Dokument einer anderen Frau der Bekennenden Kirche in Berlin zu: Marga Meusel, Verfasserin einer ähnlichen, aber nur auf die Situation von getauften evangelischen Juden konzentrierten Denkschrift, was andere Autoren bis 1999 unkritisch übernehmen. In einer ausführlichen Arbeit über die Steglitzer Bekenntnissynode von 1935 dokumentiert Wilhelm Niemöller 1970 den gesamten Text mit dem Hinweis: „Verfasst von Marga Meusel, der Synode übergeben von Martin Albertz.“

1999 veröffentlicht eine ehemalige Schülerin von Elisabeth Schmitz, die Pfarrerin Dietgard Meyer in einem Buch über Katharina Staritz ein Lebensbild von Elisabeth Schmitz und beweist ihre Verfasserschaft. Im Jahr 2004 öffnet Gerhard Lüdecke, ein pensionierter Richter und Regionalhistoriker - auf der Suche nach einem bestimmten alten Buch - in einem Kellerraum der Alten Johanneskirche in Hanau eine verstaubte alte Aktentasche. Es war der Keller der Kirche von Elisabeth Schmitz’ Gemeinde. Die Aktentasche enthält sieben Ordner mit persönlichen Unterlagen von Elisabeth Schmitz (Zeugnisse, Abschriften, Korrespondenzen). Darunter findet man auch den handschriftlich von Elisabeth Schmitz mehrfach überarbeiteten Entwurf der Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“. Damit war die Frage ihrer Urheberschaft endgültig geklärt.

Wie verlief das Leben von Elisabeth Schmitz in den Jahren nach der Denkschrift?

Ihre Freundin, die Ärztin Martha Kassel, heiratete, wie schon gesagt, 1938 ihren jüdischen Freund und ging mit ihm ins Exil. Elisabeth Schmitz besorgte ihnen die notwendigen Devisen und übernahm deren Grundstück mit einem kleinen Ferienhaus in Wandlitz. Dort und in ihrer Berliner Wohnung gab sie Juden, die untertauchten, eine Zuflucht, besorgte Lebensmittelkarten für sie, half ihnen weiter, sodass sie der drohenden Deportation entkamen. In ihrer Personalakte im Hessischen Hauptstaatsarchiv befinden sich Aussagen verschiedener jüdischer Menschen, die nach 1945 bezeugen, dass sie Elisabeth Schmitz und ihren Freundinnen und Freunden das Leben verdanken. Entdeckt wurde der verborgene Widerstand nicht.

Elisabeth Schmitz war engagiertes Mitglied der Bekennenden Kirche, aber sie gehörte nicht ausschließlich zu einer bestimmten Bekenntnisgemeinde. So ist sie in verschiedenen Kreisen und Gruppen aktiv, die sich im Laufe der Zeit verändern. Nach ihrer Pensionierung wird sie ehrenamtliche Mitarbeiterin von Pfarrer Wilhelm Jannasch, der die kirchliche Bezugsperson einer Friedenauer Bekenntnisgruppe war, die im Missionshaus der Gossner-Mission Unterschlupf gefunden hatte. Dieses Haus war in den Kriegsjahren eine Anlaufstelle von Verfolgten. Hier liefen wichtige, ansonsten unveröffentlichte Nachrichten zusammen. Hier traf man zentrale Personen der protestantischen kirchlichen Opposition. 

Pfarrer Jannasch bat sie, die ja Religionslehrerin war, Jüdinnen und Juden, die den Wunsch hatten, Christen zu werden, Taufunterricht zu geben. Das konnte nicht in kirchlichen Räumen geschehen. Deshalb besuchte Elisabeth Schmitz diese Juden in ihren Wohnungen. 1950 wurde sie gebeten, vor der Schüler- und Lehrerschaft ihrer Schule eine „Rede zum Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ zu halten. Darin berichtet sie, wie sie eine junge Familie, die gerade ihr erstes Kind bekommen hatte, aufgesucht und dabei schon geahnt hat, welchem Schicksal die drei entgegen gehen würden:

„Ich stand mit der jungen Mutter vor dem Körbchen des schlafenden Kindes. Seine Atemzüge waren das einzige, was man hörte, so still war es. Sie glaubte so zuversichtlich, dass Gott das Kind nicht habe geboren werden lassen, um es gleich wieder zu sich zu nehmen. Mir aber zerriss es das Herz, wenn ich daran dachte, welch furchtbarem Schicksal dieses Kind entgegen schlief, und ich hatte keine Hoffnung, Als ich das nächste Mal kam, war die Wohnung leer. Sie waren nach Theresienstadt transportiert worden, aber, wie wir nach dem Zusammenbruch hörten, von dort weiter nach Polen zur Vergasung. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.“

Im August 1943 kehrt Elisabeth Schmitz nach Hanau zurück und versorgt zusammen mit ihrer älteren Schwester, Maria, die das bisher allein getan hat, ihren betagten Vater. 1943 wird – in ihrer Abwesenheit - ihre Berliner Wohnung durch Bomben völlig zerstört – neben allem anderen verliert sie ihre große Bibliothek und alle ihre schriftlichen Ausarbeitungen, Materialsammlungen und Unterlagen. Fast dreißig Jahre hatte sie in der kulturellen Weite und politischen Brisanz Berlins gelebt. Nun wird ihr Lebensmittelpunkt das kleine Hanau. Aber sie hält manche freundschaftliche Verbindungen aus ihrer Berliner Zeit weiter aufrecht. 1946 nimmt sie - nach siebenjähriger Unterbrechung – wieder ihre Tätigkeit als Lehrerin auf, zunächst als Vertretungskraft im Angestelltenverhältnis, ab 1947 als beamtete Studienrätin. 1958 wird sie pensioniert. Sie stirbt als Vierundachtzigjährige am 10. September 1977. An ihrer Beisetzung sollen nur sieben oder acht Personen teilgenommen haben.

Schweigende Zurückhaltung

Ihrem Gesuch um „Anerkennung als Wiedergutmachungsfall und um Übernahme in den Schuldienst Großhessens“ sind beigefügt ein Exemplar der Denkschrift samt einer Bestätigung eines Propstes, dem sie im Jahr 1936 ein Exemplar persönlich überreicht hatte, ferner schriftliche Aussagen von jüdischen Deutschen, die Elisabeth Schmitz versteckt und denen sie weiter geholfen hatte. In ihrem Gesuch schreibt sie rückblickend: „Ich beschloss, den Schuldienst aufzugeben und nicht länger Beamtin einer Regierung zu sein, die die Synagogen anstecken lässt.“ Diese Schriftstücke fand Dietgard Meyer in der Personalakte. Der städtische Schulträger und die hessische Schulbehörde hatten demnach durchaus Kenntnis, dass Dr. Elisabeth Schmitz durch und durch eine Antifaschistin war. Und das wussten wohl auch die Lehrerkollegen an ihrer Schule.

Außer in einem mit den Behörden ausgefochtenen Wiedergutmachungsverfahren hat Elisabeth Schmitz zu ihren Lebzeiten niemals auf ihren stillen Widerstand verwiesen. Es passte wohl ganz und gar nicht zu ihrem Wesen, sich in der Öffentlichkeit damit wichtig zu tun.

Wie ganz anders haben manche Männer der BK – oder im Falle Bonhoeffers seine Freunde - nach 1945 von ihrem Kirchenkampf und ihren damaligen Beurteilungen der politischen Lage berichtet und so auch für den eigenen Nachruhm gesorgt. Und warum haben sie nicht in den Wiederaufbaujahren, als so mancher von ihnen kirchliche oder akademische Karriere machte, dafür gesorgt, dass auch Elisabeth Schmitz in akademische Aufgaben einbezogen wurde, die das Erbe der Bekennenden Kirche für die Nachkriegszeit fruchtbar machen sollten? Der erwähnte Bekenntnispfarrer Wilhelm Jannasch wurde zum Beispiel Professor für praktische Theologie an der Universität Mainz.

Es bleibt für mich zum Schluss die Frage: Warum hat Elisabeth Schmitz über ihr Engagement in der NS-Zeit nach der Befreiung 1945 geschwiegen?

Mögliche Gründe:

Sie war enttäuscht darüber, dass in den ersten Nachkriegsjahren bis in die späten Sechziger die evangelische Kirche ihre Mitschuld an der Judenverfolgung im Dritten Reich verdrängte.

Oder sie spürte, dass sie im Grunde niemand hören wollte, weil die deutsche Gesellschaft der Wiederaufbaujahre nicht an ihre übergroße Schuld den Juden gegenüber erinnert werden wollte.

Oder sie hielt sich zurück in der demütigen Bescheidenheit einer alten Frau, die mit ihrer Berliner Lebensepoche abgeschlossen hatte.

Oder sie war einfach müde und musste den Tageskampf der Nachkriegsjahre bestehen.

Oder sie fand das, was sie getan und geleistet hat, als einfach normal und moralisch selbstverständlich - jeder Christ in Deutschland hätte eigentlich so handeln müssen wie sie.

Dietgard Meyer stellt fest: „Die Bedeutung von Elisabeth Schmitz liegt darin, dass sie schon ab 1933 sieht und ausspricht - zum Beispiel in ihren Briefen an Karl Barth -, was mit dem Nationalsozialismus auf Deutschland und die deutschen Juden zukommt, dass sie die evangelische Kirche beschwört, ihre Stimme laut werden zu lassen und nicht zu schweigen. Die Einmaligkeit des Textes ihrer Denkschrift und die Einmaligkeit ihrer Haltung und ihrer persönlich gezogenen Konsequenz heben sie aus allen andern kirchlichen Stimmen und Verhaltensweisen der Jahre des nationalsozialistischen Regimes hervor.“ (in: Biographisch-bibliographisches Lexikon - http://www.kirchenlexikon.de/s/s1/schmitz_eli.shtml)

Paul Gerhard Schoenborn, Dellbusch 298, D-42279 Wuppertal
 


Benutzte Literatur:

- Dietgard Meyer: „Elisabeth Schmitz: Die Denkschrift ‚Zur Lage der deutschen Nichtarier’ “ in: Erhard/Meseberg-Haubold/Meyer, Katherina Staritz Bd I, S.185 – 269, Neulirchen-Vluyn 1999.

- Dietgard Meyer: Artikel „Elisabeth Schmitz“ in: Biographisch-bibliographisches Lexikon: http://www.kirchenlexikon.de/s/s1/schmitz_eli.shtml.

- Dietgard Meyer: „Wir haben keine Zeit zu warten“ Der Briefwechsel zwischen Elisabeth Schmitz und Karl Barth in den Jahren 1934-1966, in: ZKG 22, 2009, S. 328-374.

- Manfred Gailus: "Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung: Konturen einer vergessenen Biographie (1893–1977)", Berlin 2008.

- Manfred Gailus: „Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz“, Göttingen 2010.

- Artikel „Elisabeth Schmitz“ in Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_Schmitz.
 

 

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