Politikum Kirche

Warum der Strukturprozess der Ev. Landeskirchen neoliberale Ideologie befördert

In den meisten Landeskirchen der EKD ist seit etlichen Jahren ein Strukturprozess im Gange, der vorrangig mit Finanzproblemen begründet wird. In weiten Teilen ist er von einer neoliberalen Ideologie bestimmt. Dies gilt auch für die Evangelische Kirche im Rheinland. Diese Landeskirche hat zwar bemerkenswerte Stellungnahmen zum Thema Globalisierung oder Kinderarmut abgegeben, sie tritt in einem Beschluss der Landessynode vom Januar 2009 für einen gesetzlichen Mindestlohn ein, dennoch entwertet auch sie durch ihre strukturelle Neuorientierung die eigenen sozialethischen Positionen.
In einer humanen Gesellschaft sind bestimmte Lebensbereiche bewusst Marktmechanismen entzogen. In der Vergangenheit zählten hierzu Aufgaben mit staatlich-hoheitlicher Funktion wie Polizei und Justiz, aber auch andere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie Bildung und Erziehung oder Infrastruktur (Energie und Wasserversorgung, Post oder Bahn). Als Körperschaft des öffentlichen Rechts waren die Kirchen strukturell Teil des öffentlichen
Sektors. Dieser wird durch einen neoliberalen Politikansatz seit etlichen Jahren immer mehr ausgedünnt. Die Finanz- und Wirtschaftskrise gibt massive Gründe vor, über folgende Fragen neu nachzudenken: Welche gesellschaftlichen Segmente kann man ohne schädliche Nebenwirkungen Marktmechanismen und betriebswirtschaftlichen Methoden aussetzen und welche nicht? Wo liegen die die Möglichkeiten und Grenzen privatwirtschaftlichen Handelns?
Die meisten Ev. Landeskirchen leisten hier einem mittlerweile anachronistisch anmutenden Marktradikalismus Vorschub!

• Am augenfälligsten ist der neoliberale „Sündenfall“ bei der Begründung der Strukturreform: Bis 2030 sollen die Ev. Landeskirchen etwa ein Drittel ihrer Mitglieder und die Hälfte ihrer Finanzkraft einbüßen - so lautet die sog. „Einfache Formel“, die exponiert im EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ aufgeführt wird und auch in der Ev. Kirche im Rheinland bis heute Grundlage kirchlicher Finanzplanung ist. Bedenklich ist die Tatsache, dass als Begründung für den Verlust an Finanzkraft der demographische Wandel herhalten muss. Führende Kirchenvertreter verwenden hier leicht modifizierte Argumentationsmuster, wie neoliberale Politiker oder Lobbyisten der Versicherungswirtschaft im Zusammenhang z.B. mit der Rentenproblematik. Auf die Finanzkraft der Kirche hat der demographische Wandel in der Vergangenheit keinen wesentlichen Einfluss gehabt. Entscheidend war eine Steuerpolitik, die z.B. in mehreren Schritten den Spitzensteuersatz von einst 56% auf zwischendurch 42% senkte und damit nicht nur die Unterfinanzierung weiter Teile des öffentlichen Sektors wie des Bildungsbereichs vorantrieb, sondern gleichzeitig Finanzprobleme bei den Kirchen auslöste. Negativ ausgewirkt hat sich auf die kirchlichen, aber auch auf die staatlichen Einnahmen die Tatsache, dass es seit Beginn der 90-ger Jahre praktisch keine Reallohnzuwächse bei den abhängig Beschäftigten gab. Darüber hinaus haben konjunkturell oder auch strukturell bedingte wirtschaftliche Einbrüche ( - die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise ist strukturell bedingt und im wesentlichen eine Folge einer Deregulierung der Finanzmärkte und einem durch neoliberale Ideologie verursachtem Staatsversagen - ) die kirchlichen Einnahmen geschmälert. Wer heute für das Jahr 2030 die Halbierung kirchlicher Finanzkraft prognostiziert und dies als schicksalhaft hinnimmt, prognostiziert ähnliches für die staatlichen Steuereinnahmen. „Schlanker Staat“ ist da ein Euphemismus. Es wäre eine Gesellschaft mit erheblichen sozialen Verwerfungen, in der der öffentliche Sektor endgültig verkümmert ist und selbst die verbliebenen Strukturen eines „Nachtwächterstaats“ kaum mehr ausreichend finanziert
werden könnten. Wie dem auch sei, jeder, der in der Ev. Kirche halbwegs kritisch und sozial eingestellt ist, sollte sich überlegen, welche Aussagen über eine Gesellschaft der Zukunft mit derartigen Langfristprognosen gemacht werden.

• Seit Mitte der 90-ger Jahre gewann der Marktbegriff für die kirchliche Strukturdiskussion an Bedeutung. Die Profilierung der Kirche auf dem „religiösen Markt“ wurde gefordert. Das Leitbild einer Kirche als religiösem Dienstleistungskonzern gewann an Konturen. Die kirchliche Botschaft wurde zum „Produkt“, dem man mit Methoden der „Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung“ zu Leibe rücken will. Kirchenmitglieder mutierten zu „Kunden“, an deren Bedürfnisse man sich zu orientieren habe. Über allem stand und steht die Forderung nach einem möglichst effizienten Umgang mit den angeblich schicksalhaft immer knapper werdenden Finanzmitteln. Wirklich neu und originell war dies alles nicht. Zuvor hatten wichtige Teile des öffentlichen Sektors Teile der Energiewirtschaft oder die Post ähnliche sprachliche und betrieblich-strukturelle Metamorphosen durchlaufen. Der Öffentliche Dienst war entsprechend dem neoliberalen Zeitgeist zunehmend privatwirtschaftlichen Methoden ausgesetzt worden, Universitäten, Schulen oder Kindertagesstätten sollten sich als Dienstleistungsunternehmen verstehen, sogar Empfänger von Transferleistungen werden bei den Arbeitsagenturen zynischer weise als „Kunden“ bezeichnet. Dieser Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche leistete die Ev. Kirche mit ihrem eigenen Strukturprozess kräftig Vorschub. Sie förderte damit ein neoliberales Politikkonzept, das
marktradikal ist, eine soziale Polarisierung vorantreibt und die Rolle des Staates auf rein hoheitliche Funktionen zurückfahren möchte.

• Die Situation der bei der Ev. Kirche Beschäftigten hat sich in den vergangenen Jahren deutlich in vielerlei Hinsicht verschlechtert. Entsprechend der Entwicklung im öffentlichen Dienst gab es im Blick auf die Lohn- und Gehaltsentwicklung erhebliche Kaufkraftverluste. Die Anzahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse hat zugenommen. Selbst beim Pfarrdienst ist die Anzahl der vollen Pfarrstellen rückläufig, viele leben von dem Einkommen, das eine 75%-Pfarrstelle oder gar eine 50%-Pfarrstelle hergibt. Der durch den Finanzalarmismus ausgelöste Druck zu Kooperationen und Fusionen bedeutet in vielen Fällen den Abbau von Arbeitsplätzen, der dann als „Synergieeffekt“ sogar noch bejubelt wird. Die verbliebenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden genötigt, die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern, wo sie oft auf Grund des durch Stellenabbau verursachten größeren Arbeitsaufkommens kaum noch Luft zum
Atmen haben. Besonders auffällig ist die Situation der kirchlichen Beschäftigen deswegen nicht, weil in weiten Teilen des öffentlichen Sektors ähnliche Mechanismen greifen: ob es um Gerichte, Polizei, Jugendämter oder Schulen geht, überall steht zu wenig Personal wachsenden Aufgaben und höheren Ansprüchen gegenüber - eine Folge neoliberaler Steuer- und Wirtschaftspolitik. Die besondere Verantwortung der Ev. Kirche an dieser Situation besteht darin, dass sie vorauseilend Elemente einer neoliberalen Ideologie goutiert hat, obwohl dies nicht nur gegen die Interessen der eigenen Großorganisation gerichtet ist, sondern vor allem gegen die Interessen der abhängig Beschäftigten und der auf Transferleistungen Angewiesenen.

Schon jetzt befinden sich 23% der abhängig Beschäftigten in Deutschland mit ihrer Einkommenssituation im sog. „Niedriglohnsektor“, in den USA sind es 25%. Dies ist ein Zustand, den vor Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die wachsende Anzahl von Suppenküchen, Tafeln und „warmen Stuben“ liefert den augenfälligen Beleg für die Armut in unserem Land. Gleichzeitig sind die Einkünfte aus Kapital- und Produktivvermögen kräftig gewachsen. Die soziale Ungleichheit hat zugenommen. Sollten sich neoliberale Politikkonzepte weiterhin durchsetzen, werden die sozialen Spannungen zunehmen. Schon jetzt brechen Steuereinahmen weg, wächst die Anzahl der Arbeitslosen und werden jenseits von tariflichen Vereinbarungen Lohnkürzungen durchgesetzt. Es ist für die gutwilligen und sozialethisch engagierten Verantwortungsträger in der Ev. Kirche höchste Zeit, innezuhalten. Denn was strukturell in der Ev. Kirche und in ihren Landeskirchen geschieht, ist ein Politikum. Wie sie sich organisert, welche Methoden sie verwendet und wie sie mit ihren Beschäftigten umgeht, all dies hat Auswirkungen in die Gesellschaft hinein und beeinflusst den politischen Diskurs in die eine oder andere Richtung. Im Moment werden eher die begünstigt, die jetzt schon trotz milliardenschwerer Rettungsschirme für die Finanzwirtschaft Transferleistungen kürzen, Steuern vor allem für Vermögende senken und die Privatisierung des öffentlichen Sektors weiter vorantreiben wollen.

Hans-Jürgen Volk

 

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