Abschied von der Gerechtigkeit bei der EKD?

Zwischenruf zur Berufung von Paul Nolte zum Präsidenten der Ev. Akademie Berlin

Die Berufung von Paul Nolte zum Präsidenten der Ev. Akademie Berlin durch den Rat der EKD ist ein Politikum mit Signalwirkung. Die Anhänger der „Kirche der Freiheit“ haben einen „Freund der Freiheit“ zum Repräsentanten ihrer Sache gemacht - Nolte, ein geschmeidiger Konservativer mit neoliberaler Tendenz, ein Seelenverwandter von Personen wie Friedrich Merz, für die Freiheit ein kostbares Gut ist. So kostbar, wie das Brillantkollier in der Vitrine des Juweliers, in dessen Besitz theoretisch zwar jeder gelangen kann, faktisch aber nur wenige „Würdige“, die über die nötigen Mittel hierzu verfügen.

Am 20. Dezember 08 schrieb Paul Nolte einen Aufsatz in der FAZ, der von bestimmten gesellschaftlichen Kreisen, denen er auch die Religion wieder nahe bringen möchte, als glänzendes Essay bejubelt wurde. Auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise konstatiert er den „Abschied von der Gerechtigkeit“ und wirbt für die Akzeptanz von sozialen Unterschieden. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist für ihn ein Ärgernis: „Der Wert der Gerechtigkeit hat, vereinfacht gesagt, die Solidarität in sich aufgesogen und die Freiheit an die zweite Stelle verdrängt.“ - so resümiert er bedauernd.

Auch sein Buch von 2004 „Generation Reform“ enthält wenig mehr als eine klassische neoliberale Rezeptur. So setzt er sich ein für die „Kopfpauschale“ der CDU, fordert eine gesicherte Basisversorgung im Gesundheitswesen und vergleicht das Bemühen um Gesundheit mit dem Gang durch den Supermarkt, wo ja auch jeder die Freiheit habe, zu kaufen, was er möchte. Den Steuerstaat will er sukzessive in einen Gebührenstaat umwandeln; wenn schon Steuern, dann auf den Verbrauch von Gütern. Dass dies alles die sozialen Gegensätze weiter verschärft, nimmt er durchaus billigend in Kauf. Denn nach dem neoliberalen Glaubensbekenntnis ist dies gut für die wirtschaftliche Dynamik.

Wenn Paul Nolte Vorsitzender irgendeiner konservativen Stiftung werden würde, könnte man dies mit einem gewissen Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Vorgesehen ist er als Repräsentant einer Akademie, die ein Aushängeschild der EKD in der Bundeshauptstadt ist. Der Rat der EKD wird seine Entscheidung sehr bewusst getroffen haben, und so fällt all das, was Nolte sagt und schreibt auf die Frauen und Männer in diesem Gremium zurück. Allein seine Haltung zum Gerechtigkeitsbegriff befindet sich auf scharfem Kollisionskurs mit der christlich-jüdischen Tradition.

In der hebräischen Bibel ist „Gerechtigkeit“ ein Beziehungsbegriff. Gerecht ist ein Handeln, dass förderlich für die Gemeinschaft ist. Insofern hat der biblische Gerechtigkeitsbegriff nicht nur „die Solidarität in sich aufgesogen“, mehr noch: gerecht ist der, der solidarisch handelt und lebt. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums hat in der christlich-jüdischen Tradition ihre Wurzel. Auch der biblische Freiheitsbegriff ist mitnichten der von Paul Nolte und anderen Neoliberalen.
Denn er hat sein Urdatum in der Befreiung der Kinder Israels aus dem Zangengriff des Frondienstes in Ägypten. Es geht um die Freiheit der Unterdrückten und Versklavten.

Im biblischen Sinne ungerecht ist es, wenn abhängig Beschäftigten eingeredet wird, „wir“ würden über unsere Verhältnisse leben - und gleichzeitig steigen Gewinne aus Kapital- und Produktivvermögen exorbitant. Die Gleichzeitigkeit von Agenda-Politik, Kaufkraftverlusten bei der Masse der Menschen und in die Höhe schießenden Managergehältern sind das Ungerechte. Den normalen Menschen wurde Wasser gepredigt, und viele ließen sich darauf ein, doch gleichzeitig verschwanden immer mehr Weinfässer in den Kellern der wirklich Vermögenden - viel mehr, als sie je trinken konnten. Dies alles lässt schließen auf eine Entsolidarisierung großer Teile der sogenannten „Eliten“ mit der Restbevölkerung.

Dass Paul Nolte faktisch dazu gehört, dass er zumindest keinen Schimmer hat, was ein Arbeitnehmer zur Zeit bei Opel oder eine Harz IV Empfängerin wirklich durchmacht, zeigt sein Satz: „Die Ängste haben sich gegenüber den realen Erfahrungen längst verselbständigt.“ Diese unglaubliche Analyse zeigt nur, wie sehr unsere Gesellschaft fragmentiert ist und wie konsequent sich eine gewisse „Elite“, zu der sich offenbar auch der verbeamtete Professor zählt, in ein eigenes soziales Getto begeben hat.

Mit seinem „Abschied von der Gerechtigkeit“ verabschiedet sich Paul Nolte von weiten Teilen der christlich-jüdischen Tradition, wie sie zum Beispiel bei den Propheten Jesaja und Amos mit ihrer Sozialkritik zum Ausdruck kommt. Er gleicht darin den Repräsentanten des Kulturprotestantismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, die durchaus im Einklang waren mit den bürgerlichen und adligen Eliten der damaligen Zeit. Einige von ihnen wollten sich bereits damals trennen vom sog. „Alten Testament“. Dies war keineswegs eine Erfindung der späteren Deutschen Christen.

Man wird den Verdacht nicht los, dass an der EKD-Spitze eine tiefe Sehnsucht nach den „glorreichen“ Zeiten des Kulturprotestantismus herrscht. Damals war Religion „gesellschaftsfähig“ - was für ein verräterischer Ausdruck!

Übrigens nützt es wenig, die hebräische Bibel beiseite zu schieben, um einer neutestamentlich begründeten religiösen Innerlichkeit das Wort zu reden. Denn auch im Neuen Testament wird man das hebräische Erbe nicht los und stößt auf kolossal aktuelle Sätze wie diese:
Und nun, ihr Reichen: Weint und heult über das Elend, das über euch kommen wird!  Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen.

Euer Gold und Silber ist verrostet und ihr Rost wird gegen euch Zeugnis geben und wird euer Fleisch fressen wie Feuer. Ihr habt euch Schätze gesammelt in diesen letzten Tagen! Siehe, der Lohn der Arbeiter, die euer Land abgeerntet haben, den ihr ihnen vorenthalten habt, der schreit, und das Rufen der Schnitter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Ihr habt geschlemmt auf Erden und geprasst und eure Herzen gemästet am Schlachttag. Ihr habt den Gerechten verurteilt und getötet, und er hat euch nicht widerstanden.
Jakobusbrief 5,1-6

Hans-Jürgen Volk

 

Mobile Menu