Den Reformprozessen fehlt es an gesundem Menschenverstand

Prof. Gerhard Wegner von der Uni Marburg und Redakteur Rheinhard Bingener von der FAZ zu den Ergebnissen der KMU V.
Von Andreas Reinhold

Der Kirchentag ist vorbei. Und? Sind wir, was unsere Kirche betrifft, nun klug geworden? Oder zumindest etwas schlauer als vorher? Wer in Stuttgart dabei war, konnte – wie auf den vergangenen Kirchentagen zuvor – wieder einmal feststellen, dass Kirche von der Basis her lebt und in die Welt hinein wirkt: bunt, vielfältig, überzeugend, menschennah, spannend, phantasievoll – so geht Kirche! Natürlich braucht es die Organisation, die Logistik im Hintergrund, die Raum für die Entfaltung der Menschen schafft. Aber das Herz der Kirche ist eben nicht die Verwaltung, wie es jüngst eine Superintendentin in ihrer Predigt formulierte. Das Herz der Kirche ist der Glaube, für den die Menschen vor Ort und gegenüber der Welt mit ihren Worten und Taten einstehen und werben – je konkreter desto besser.

Mittlerweile tauchen immer mehr Studien auf, die dies auch empirisch bestätigen. Die EKD hat z.B. durch das Sozialwissenschaftliche Institut untersuchen lassen, wie es den Kirchengemeinden geht – zum ersten Mal nach 50 Jahren. Die Ergebnisse überraschen … vor allem die Auftraggeber! Manche Vorurteile, die teilweise Reformprozesse mitbegründet haben, stimmen nicht, so z.B. die Ansicht, dass es eine gesellschaftliche Monokultur in den Gemeindeleitungen gebe. So stellt Petra-Angela Ahrens vom SI fest: “Eine Milieuverengung, wie sie weithin verstanden wird, kann man eigentlich gar nicht diagnostizieren. Die Palette der Orientierungen ist sehr viel breiter als oft gedacht …” Eine weitere “Überraschung” ist, dass Kirchengemeinden sich lange nicht so sehr um sich selbst drehen wie man wohl in manchen EKD-Etagen vermutet. Ahrens: “Überrascht hat mich, wie stark die Kirchengemeinden ihre Kontakte in ihr näheres und weiteres Umfeld pflegen. Darauf wird sehr viel Mühe verwendet. Das hat mich wirklich überrascht, denn wir haben ja häufig die Vorstellung von einer so genannten Festungsmentalität: Die Gemeinde beschäftige sich nur mit sich selbst. Das ist aber nicht der Fall. Sondern die Gemeinden sind auch auf ihr Umfeld ausgerichtet, in dem sie sich bewegen.”

Zeugen diese Aussagen nicht von einem schrägen Bild von Gemeinde, das sich in manchen Ebenen in den Köpfen festgesetzt zu haben scheint? Überrascht war man jedenfalls wohl auch über die Ergebnisse der fünften Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft (KMU V). Diese sind zwar erst in Teilen veröffentlicht (warum eigentlich?), doch ist auch hier der Fokus der Befragten auf die Ortsgemeinde und ihre Mitarbeitenden überdeutlich. So stellt Gerhard Wegner, Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg bei einem Vortrag auf dem Hannoverschen Pfarrvereinstag im März (veröffentlicht im Hannoverschen Pfarrvereinsblatt 2/2015, S. 11ff). fest:

Die Verbundenheit mit der Kirchengemeinde (…) geht einher mit der Bindung an die Kirche überhaupt: 44% der Kirchenmitglieder fühlen sich in ihrer Kirchengemeinde verbunden und eine ähnlich hohe Zahl fühlt sich der Kirche verbunden. Die Bindung an die Kirchengemeinde und an die Kirche allgemein sind nach den Angaben der 5. KMU schlicht identisch. Die oftmals beliebte Vorstellung von großen Teilen der Evangelischen, die sich ihrer Kirche verbunden fühlen, aber nicht ihrer Kirchengemeinde, findet an diesen Zahlen keinen Anhalt mehr – und warum sollte sie auch. Deswegen sind natürlich die Kirchengemeinden bzw. die Ortskirchengemeinden nicht alles in unserer Kirche, aber ohne sie ist alles nichts. (Hervorhebung vom Verf.)

Was der Basis schon lange bewusst und bekannt war, ist nun also auch schwarz auf weiß für Synodale und Kirchenleitungen auf Landeskirchen- und EKD-Ebene nachzulesen. Doch werden daraus auch die logischen Konsequenzen gezogen? In der Zusammenschau der Untersuchungen kann es ja eigentlich nur eine Schlussfolgerung geben: die Stärkung der ersten Ebene, also der Gemeinden, Einrichtungen und Werke, die vor Ort bei den Menschen ihrem christlichen Auftrag nachkommen. Doch ist das der Fall? Die Entscheidungen der letzten Jahre sprechen fatalerweise dagegen! Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch Reinhard Bingener, Redakteur der FAZ und seit längerem mit den Umbrüchen in der Kirche beschäftigt.

Die Ergebnisse der KMU deuten ja darauf hin – auch das ist im Prinzip eine Binse – dass die Kirche höchstes Interesse daran haben sollte, die Zahl der Face-to-Face-Kontakte der Pfarrer mit den Mitgliedern und darüber hinaus so hoch wie möglich zu schrauben. Die Frage ist: Hat sie ihre Strukturen entsprechend ausgestaltet? Daten aus der KMU legen nahe, dass dies nicht der Fall ist und die Nähe des Personals zu den Mitgliedern in den vergangenen Jahrzehnten eher zurückgegangen ist. (…) An den finanziellen Ressourcen kann das jedenfalls nicht liegen. Die evangelische Kirche hat in den vergangenen sechszig Jahren, wie es der Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild formulierte, ihre “dagobertinische Phase” erlebt. (…) Die Analyse des jungen Historikers Stefan Schmunk, der diese Daten erhoben hat, belegen, dass die Gelder aber tendenziell eher in die Arbeitsfelder geflossen sind, die einen weniger breit gefächerten Kontakt mit der Bevölkerung haben. Nur ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Die EKHN hat vor einigen Jahren einen weiteren Reformprozess gestartet. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Selbsteinsicht, dass man die Leute nicht erreicht. Nur: Wie versucht man sie zu erreichen? Ohne empirische Basis wurde das “Schlagwort von der Kirche” in der Region zum Angelpunkt der Reform erklärt. Seitdem gibt es in den Dekanaten Beauftragte – für Ökumene, Öffentlichkeitsarbeit etc. Die KMU V belegt jedoch eindrücklich, dass viele Ebenen oberhalb der Gemeinde, also Dekanate, Landeskirchen, VELKD, UEK, für die Mitglieder offensichtlich gar keine oder nur eine geringe Rolle spielen. (Hervorhebung vom Verf.) Abermals: Da genügt eigentlich der gesunde Menschenverstand, um zu diesem Ergebnis zu gelangen. Was sagt es aber über die Steuerungsfähigkeit der Synoden, wenn man trotzdem solche Reformen ins Werk setzt?


Was Bingener beispielhaft für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau analysiert, gilt ebenso für die Evangelische Kirche im Rheinland. Auf der letzten Synode wurde – trotz langjähriger steigender Kirchensteuereinnahmen – der Rotstift gerade bei den Einrichtungen und Werken angesetzt, die ihren Dienst vor Ort bei den Menschen tun. Zahlreiche Kirchengemeinden müssen immer mehr finanzielle Mittel für die steigenden Kosten der Zentralverwaltungen (teilweise bis zu 30% des Gesamtvolumens ihres Haushaltes) einplanen, gleichzeitig jedoch die Investitionen vor Ort herunterschrauben. Ende November 2014 hat die Kirchenleitung die Haushaltshoheit der Kirchengemeinden eingeschränkt. In manchen Kreisen wird wohl ernsthaft diskutiert, die Pfarrstellen an die Kirchenkreisebene zu koppeln oder den Kirchengemeinden gar den Status als Körperschaft des Öffentlichen Rechts zu entziehen. Es mag Argumente für solche Gedankenspiele geben, aber sie gehen an den Bedürfnissen der Basis vorbei und zeugen mittlerweile von einer selektiven Wahrnehmung und Interpretation, ja Ignoranz der – teilweise eigenen – Untersuchungsergebnisse. So ist sich selbst Frau Ahrens vom SI nicht sicher, inwiefern ihre Studie Beachtung findet. Auf die Frage, für wen sie denn gedacht sei, lautet ihre aufschlussreiche Antwort: “Letztlich für alle, die daran interessiert sind. Wir hoffen, dass gerade Kirchenvorstände oder Kirchenälteste sie lesen. Wir hoffen aber auch sehr, dass Kirchenleitungen sich damit beschäftigen – und dass dieser Bereich auch wissenschaftlich ernst genommen wird.”

“Damit wir klug werden” – das Motto des Kirchentages gilt deshalb auch in Bezug auf die strukturellen Veränderungen, die unsere Kirche seit geraumer Zeit erfährt und die gerade das schwächen, was Kirche in einer schwierigen Zeit und in einem schwierigen gesellschaftlichen Umfeld noch stark macht. Dem gilt es sich in der Tat zu widersetzen – nicht, um an alten Pfründen festzuhalten oder sich notwendigen Veränderungen zu verweigern oder Tatsachen zu ignorieren, was Basisbewegungen wie dem KirchenBunt immer wieder vorgeworfen wird. Es geht vielmehr um die Frage, welche Kirche Zukunft hat. Die durch das Impulspapier “Kirche der Freiheit” eingeläutete, konzernorientierte “Management-Kirche” ist es unserer Ansicht nach jedenfalls nicht! Deshalb sei zum Schluss die Analyse von Matthias Burchardt, Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie der Universität zu Köln, zitiert, der im Grunde genommen nichts hinzugefügt werden muss:

Was zurzeit in einigen der Evangelischen Landeskirchen geschieht, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Wenn es heute eine Rechtfertigung für die Existenz von Kirche geben kann, dann doch die, dass sie den Totalitarismen eine radikal andere Soziallogik und -praxis entgegensetzt. Doch hinter der Feiertagsrhetorik ihrer Spitzenvertreter wird die Kirche im Moment durch Unternehmensberater und Stiftungen mit neoliberaler Agenda angespornt, sich intern in einen paratheologischen Dienstleistungskonzern umzubauen. Die Evangelische Kirche im Rheinland etwa wird von Steria Mummert Consulting beraten und lässt sich das Finanzsystem NKF aufschwatzen, das ein ideales System für jene Art von neoliberaler Steuerung ist, die in den Kommunen unter dem Begriff “Doppik” firmiert. Und auch McKinsey ist ganz vorne mit dabei. Das ist schon wie in der Fabel von Hase und Igel, auch in dieser Ackerfurche sitzt ein Bertelsmann. (…) Katastrophengerede als Motiv für einen Umbau ganz im Geiste des New Public Management, welches aktuell auch über unser Bildungssystem und andere Bereiche gegossen wird. Das Ergebnis hiervon ist übrigens vorhersehbar: Es wird viel Geld ausgegeben sowie dem engagierten Personal zusätzliche Arbeit aufgebürdet werden, der wesentliche Auftrag der Kirche wird bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und die versprochenen Ziele schließlich grandios verfehlt.

 

 

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