Evangelische Existenz heute!
Eine Streitschrift auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017
- Erstveröffentlichung im Deutschen Pfarrerblatt 10/2012, S. 574-576. 581-582 -
Von Eberhard Cherdon und Martin Schuck
Mit der Veröffentlichung des Impulspapiers des Rats der EKD „Kirche der Freiheit“ im Juni 2006 begann eine Debatte über den Umbau der kirchlichen Landschaft des deutschen Protestantismus. Wenig später wurde eine Dekade zur Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 ausgerufen. In ihrem Mittelpunkt steht eine inhaltliche Hinführung zur Reformation durch die Konzentration auf verschiedene „Jahresthemen“, die – wo immer es geht – mit einem Jubiläum verbunden werden. Diese Hinführung verbindet die Reformationsdekade mit dem Vorschlag des Impulspapiers, mit sogenannten „Aufwärtsthemen“ zur innerprotestantischen Identitätsstiftung beizutragen.
Beim Blick auf die Geschichte des deutschen Protestantismus lässt sich feststellen, dass die Kirche eigentlich immer vor dem gleichen Dilemma steht, wenn „Reformen“ anstehen, die von außen herangetragen werden und nicht aus innerer, genauer: theologischer, Notwendigkeit erfolgen. Zwar lagen 2006 schon mehr als eineinhalb Jahrzehnte Reformbemühungen hinter den meisten Landeskirchen; sämtliche Reformvorschläge gingen allerdings mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon aus, dass in den Landeskirchen die Lösungen der anstehenden, teilweise recht unterschiedlichen Probleme erarbeitet werden. Die zur Erarbeitung des Impulspapiers eingesetzte Arbeitsgruppe der EKD nahm eine den Landeskirchen übergeordnete Perspektive ein und präsentierte die föderale Struktur des deutschen Protestantismus plötzlich als Teil des Problems, das nur von einer mit größeren Kompetenzen ausgestatteten EKD gelöst werden kann.
Wir beide haben uns an der Debatte im unmittelbaren Anschluss an die Veröffentlichung von „Kirche der Freiheit“ an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Funktionen beteiligt. Der eine, Eberhard Cherdron, war als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche der Pfalz in den EKD-Gremien Repräsentant einer jener kleineren Landeskirchen, denen im Impulspapier die Existenzberechtigung abgesprochen wurde; der andere, Martin Schuck, begleitete als Wissenschaftlicher Referent am Konfessionskundlichen Institut Bensheim die Debatte publizistisch. Uns beide vereint die Sorge, dass die inhaltliche Ausrichtung des Reformprozesses, der nach wie vor von einer Steuerungsgruppe weitergeführt wird, bei Umsetzung dazu führen wird, dass wir zum Zeitpunkt des Reformationsjubiläums 2017 einen Protestantismus vorfinden, der nicht nur in seinen formalen Strukturen, sondern auch inhaltlich vollständig verändert und seiner wichtigsten Prinzipien beraubt wäre.
Am Vorabend des 80. Erscheinungsjahres der Schrift „Theologische Existenz heute!“ von Karl Barth, die im Jahr 1933 vor allem auf die jüngeren Pfarrer und die im Entstehen begriffene Bekennende Kirche eine große Wirkung erzielte, erscheint es uns deshalb an der Zeit, wieder einmal den Zusammenhang von evangelischer Ekklesiologie und Kirchenreform grundsätzlich in den Blick zu nehmen.
I. „Kirche im Aufbruch“ und „Theologische Existenz heute!“
Es sind erst sechs Jahre, und doch sind es inzwischen mehr Schatten oder Schemen, die an das blau-grüne Papier der EKD „Kirche der Freiheit“ erinnern. Wie viel wurde um dieses Papier gekämpft, wie oft wurde in seine Inhalte eingeführt und wie heftig darüber diskutiert. Aus der „Kirche der Freiheit“ ist inzwischen die „Kirche im Aufbruch“ geworden. Wie viele Erfolge und weiterführende Anstöße zur Reform sind bis heute zu verzeichnen? Erfolgsmeldungen wurden abgegeben, auch um zu belegen, wie wichtig das alles bisher war.
„Kirche der Freiheit“ postulierte: „Die evangelische Kirche braucht zur Gestaltung des Weges in die Zukunft eine neue Bereitschaft, aus Freiheit Verbindlichkeiten wachsen zu lassen“ (S. 13). Wie subtil wurde da schon in der theologisch argumentierenden Einleitung das Mitmachen-müssen vorbereitet. Und das mündet in den schönen Satz: „Auftragsgemäßen, theologisch reflektierten Wandel zu ermöglichen, ist eine Daueraufgabe evangelischer Kirchenleitung auf allen Ebenen“ (ebd.). Wer wollte dem schon widersprechen? Und selbst der Hinweis darauf, dass in allen Landeskirchen seit langem schon Reformprozesse im Gange sind, die eigentlich einmal untereinander vermittelt werden müssten, änderte damals nichts daran, dass „Kirche der Freiheit“ in der Öffentlichkeit propagierte, dass nun endlich die evangelische Kirche sich auf einen ganz neuen Weg machen würde.
Gerade in dem Verhältnis von Landeskirchen und EKD zeigte sich damals schon, dass hier Unklarheiten bestehen, die bis heute den Reformprozess bestimmen. Das signalisiert auch der Bericht über die 7. Sitzung der Steuerungsgruppe vom 30. Januar 2012. Bis heute ist es anscheinend nicht gelungen, die Reformprozesse in den Landeskirchen im Rahmen der EKD untereinander zu vermitteln und zu definieren, welche Bedeutung der Reformprozess, der mit „Kirche der Freiheit“ angestoßen werden sollte, für die Landeskirchen wirklich hat.
Natürlich soll nicht übersehen werden, dass zwischenzeitlich einzelne Kirchenfusionen durchgeführt wurden. Und dazu gibt es eigentlich nur zwei nüchterne Fragen: Was hat das finanziell gebracht? Und ist die missionarische Kraft dieser fusionierten Kirchen deutlich größer als es die bisherige war?
Die Themenjahre der Reformationsdekade werden in den Landeskirchen und Gemeinden gut angenommen. Doch von ihrem Charakter her ist die Reformations-Dekade nur ein gelungenes Projekt der EKD und der Landeskirchen, das verhältnismäßig wenig mit Kirchenreform zu tun hat, dafür umso mehr mit Öffentlichkeitsarbeit und eigener innerer Vergewisserung. Und beides braucht der Protestantismus in Deutschland.
Über „Qualität“ darf man endlich auch bezogen auf kirchliches Handeln reden. Die in „Kirche der Freiheit“ hierzu getroffenen Aussagen sind nur zu begrüßen und zu unterstreichen. Es ist zu wünschen, dass hierzu auch weiterhin viel gearbeitet und umgesetzt wird. „Operative Umsetzung“ könnte man das nennen. Doch wer ist dafür zuständig?
Die folgenden Beobachtungen sind im Wesentlichen nur dem kleinen überschaubaren Raum der Gemeinde geschuldet. Provinziell ist das vielleicht, aber wo sonst spielt sich noch kirchliches Leben ab?
Das Internet bietet eine fast unendliche Vielfalt der Informationsmöglichkeiten. Sogar Berichte über die Sitzungen der Steuerungsgruppe von „Kirche im Aufbruch“ stellt die EKD ins Netz. Darauf kann nun auch zugegriffen werden. Es ist zu lesen, wie es weitergeht mit der „Kirche im Aufbruch“. Es zeigt sich darin der Versuch, Transparenz zu gewährleisten, den Reformprozess nicht als Aktion hinter verschlossenen Türen darzustellen. Da sind die Berichte über die Bildung der drei Zentren und deren Arbeit. Sie ziehen sich durch alle Berichterstattung hindurch und sind ja auch in den eigenen Internetauftritten der Zentren zu durchforsten. Im Folgenden wird vor allem auf die drei Berichte der Jahre 2011 und 2012 Bezug genommen.
Von der „Kirche des Aufbruchs“ zu einer „Theologie des Aufbruchs“?
Im Bericht über die 6. Sitzung der Steuerungsgruppe im Jahre 2011 werden fünf Jahre Reformprozess reflektiert und es wird erfreut festgestellt: „Die personale Repräsentanz des Prozesses hat sich verändert und ist breiter geworden.“ Es wird die Notwendigkeit gesehen immer wieder neue konzeptionelle Impulse zu entwickeln, „sonst gerät der Prozess in eine bloß operative Umsetzungsphase und läuft aus“. Bei einer solchen Formulierung reizt es natürlich zu fragen: Warum nicht? Was ist an einer „operativen Umsetzung“ Schlimmes? (siehe oben die Frage zur Qualitätsentwicklung in der kirchlichen Arbeit) Und was hindert es, einen Prozess einmal zu beenden? Nun, die Formulierung passt zu dem ja schon in „Kirche der Freiheit“ enthaltenen und oben zitierten Satz von der „Daueraufgabe“ einer Kirchenleitung, den permanenten Wandel zu ermöglichen. Da muss man sich auch nicht wundern, wenn in dem Bericht später konstatiert wird: „Es werden zu zögerliche Reformanstrengungen unternommen.“ Wer ist damit gemeint?
Ist all den vielen geschätzten und engagierten Persönlichkeiten in der „Kirche im Aufbruch“ die Ambivalenz ihres Unternehmens wirklich bewusst? Vielleicht kann nun doch ein Blick in die fast 80 Jahre alte Schrift Karl Barths etwas davon ins Gedächtnis rufen, worauf es wirklich ankommt. Sogar in den Wandlungsprozessen unserer evangelischen Kirche heute. In welch andere Welt tritt man ein, wenn die ersten Seiten von „Theologische Existenz heute!“ gelesen werden. Kann man sich auf diesen eindringlichen Ruf nach dem einzig unser Kirchensein begründenden Wort Gottes überhaupt noch einlassen? Das haben wir doch hinter uns: diese „Wort-Gottes-Theologie“. Damit kann man niemand mehr hinter dem Ofen hervorlocken.
In der Steuerungsgruppe ist eine neue Theologie gefragt. Ein weiteres, ein 13. „Leuchtfeuer“ muss entzündet werden. Und wieder ist Mut angesagt: „Es gab seit 2006 einen großen Mut, als es um Strukturveränderungen ging; den gleichen Mut braucht es auch, wenn es um die Theologie geht. Darum müssen jetzt theologische Herausforderungen der Gegenwart aufgezeigt werden. Dazu kann ein zusammengerufener kommissarischer Think-Tank gut geeignet sein.“ So ist es im 6. Bericht der Steuerungsgruppe aus dem Jahre 2011 zu lesen. Und von einem wohl internen Papier der Steuerungsgruppe heißt es im Bericht über die 7. Sitzung: „Es bedürfe einer Theologie, die in den Umbrüchen und hinter den operativen Aufgaben wirksam werde.“ Ist das nun doch jene fatale Umkehrung in der Bedeutung der Theologie: Erst haben wir die „Kirche im Aufbruch“ und dann wird man sich die dazu passende Theologie schon zurecht zimmern? Und es wird sicher auch genügend Theologinnen und Theologen geben, die im kommissarischen „Think-Tank“ mitmachen und bereit sind zu einer kirchenamtlich finanzierten und von den EKD-Organen abgesegneten neuen „Theologie des Aufbruchs“. Zumindest sei doch dazu die schüchterne Frage erlaubt, wieso wir nicht in unseren Theologischen Fakultäten oder Abteilungen oder wie das heute heißen mag, jene so heiß begehrten „Think-Tanks“ sehen könnten.
Was in der Kirche Priorität haben darf und was nicht
Und nun noch einmal Karl Barth und das Jahr 1933. Karl Barth hat damals formuliert, und wahrscheinlich hat er schon damals bis heute dafür nicht nur Zustimmung gefunden: „In der Kirche ist man sich darüber einig, daß es dem Menschen gut ist und daß ihm in Zeit und Ewigkeit nur dies Eine gut sein kann, dem Worte Gottes anzuhängen von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen seinen Kräften. In der Kirche ist man sich darüber einig, daß Gott für uns nirgends da ist, in der Welt ist, in unserem Raum und in unserer Zeit ist als in diesem seinem Wort, daß dieses Wort für uns keinen andern Namen und Inhalt hat als Jesus Christus und daß Jesus Christus für uns in der ganzen Welt nirgends zu finden ist als jeden Tag neu in der heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes. Darüber ist man sich in der Kirche einig oder man ist nicht in der Kirche.“
Barth macht in dieser ganz besonderen historischen Situation deutlich, was in der Kirche Priorität haben darf und was nicht: „Und wir als Prediger und Lehrer der Kirche insbesondere sind uns in Furcht aber auch in Freude darüber einig, daß wir berufen sind, durch unsere Predigt und unsere Lehre dem Worte Gottes in der Kirche und in der Welt zu dienen (…). Wir sind uns darüber einig, daß wir neben diesem Ersten als Sinn unserer Arbeit und unserer Ruhe, unseres Ernstes und unserer Gelassenheit, unserer Liebe und unseres Zornes kein Zweites kennen, sondern alles Zweite und Dritte, das uns auch bewegen mag und muß, in diesem Ersten eingeschlossen und aufgehoben, von ihm her gerichtet und gesegnet sehen. Darüber sind wir uns einig oder wir sind nicht Prediger und Lehrer der Kirche“ (Theologische Existenz heute! S. 4f.).
Um die Formulierungen Karl Barths aufzunehmen: Ist sich die „Kirche des Aufbruchs“ bewusst, dass sie sich vielleicht doch nur in dem Bereich des „Zweiten“ oder gar des „Dritten“ bewegt? Und meint sie mit ihrem Geschäft tatsächlich in dem „Ersten“ „eingeschlossen und aufgehoben, von ihm her gerichtet und gesegnet“ zu sein? Es muss schon erschrecken, wenn im Bericht über die 6. Sitzung 2011 der Steuerungsgruppe zu dem oben genannten internen theologischen (?) Papier vermerkt wird: „Kritisch wird auf eine Leerstelle bei der Christologie hingewiesen.“ Nun soll nicht weiter über nicht Bekanntes spekuliert werden. Man kann ja auch einfach gespannt sein darauf, was „Kirche im Aufbruch“ noch liefern wird als „Theologie im Aufbruch“.
Fern von all dem, was in Hannover oder Berlin in „Think-Tanks“ gedacht wird, wird ja jeder Lehrer und Prediger unserer Kirche seinen Dienst tun, jene Ruhe und Sicherheit, die wir so oft bei den doch viel geplagteren römisch-katholischen Schwestern und Brüdern sehen, selbst bewahren. Karl Barth hat schon in „Theologische Existenz heute!“ an den „Horengesang der Benediktiner im nahen Maria Laach“ erinnert, der auch im Dritten Reich weitergeht. Und wir freuen uns über alle gute Zusammenarbeit, über jede gelungene Predigt, über alle Anregung, die unsre Arbeit als „Prediger und Lehrer der Kirche“ besser macht. Und da mag sich nun aus den verschiedenen Reform-Zentren in die Landeskirchen und Gemeinden ein Strom von guten Ideen ergießen. Und wir sehen in den vielfältigen gelungenen Projekten, die uns das Internet zeigt, einen Ansporn, selber manches besser zu machen. Und brauchen in dem vielfältigen Wandel, der unser Leben selber ist, den Mut nicht zu verlieren. Wie hat doch der Liederdichter in unserm immer noch neuen EG gedichtet: „Wie bald verebbt der Tag, das Leben weicht, die Lust verglimmt, der Erdenruhm verbleicht; umringt von Fall und Wandel leben wir. Unwandelbar bist du: Herr, bleib bei mir“ (EG 488,2). Ist uns das in allen Aufbruchdiskussionen bewusst, wie „Fall und Wandel“ zusammengehören, das Eine nicht ohne das Andere zu haben sein wird? Doch der Name sagt es ja: Man würde gerne möglichst alles „steuern“, auch Fall und Wandel. Und ahnt es aber doch hoffentlich: dass auch „Kirche im Aufbruch“ und „Steuerungsgruppen“ und „Reform-Zentren“ dem Fall und Wandel unterworfen sind.
II. Die Theologie von „Kirche der Freiheit“ und die Freiheit in der Kirche
In der Debatte, die sofort nach Veröffentlichung des Impulspapiers „Kirche der Freiheit“ begonnen hat, kristallisierte sich schon bald die Forderung nach einer Reduzierung der Zahl der Landeskirchen als Hauptangriffsfläche der Kritik heraus. Tatsächlich war damit der aus der Sicht der Landeskirchen entscheidende Angriffspunkt getroffen, denn hier wurde direkt das komplizierte Institutionsgefüge zwischen der EKD und ihren Gliedkirchen berührt. Nach Artikel 1,1 der nach wie vor geltenden Grundordnung der EKD aus dem Jahr 1948 ist die EKD nichts anderes als die „Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen“ – ein Dachverband also, der von den Gliedkirchen geschaffen und mit deren Geld in Funktion gehalten wird zur Wahrnehmung einiger Gemeinschaftsaufgaben vor allem im Blick auf die Gesellschaft, den Staat und die Beziehungen zu anderen Konfessionskirchen und Weltanschauungsgemeinschaften. Die EKD kann somit genau diejenigen Kompetenzen wahrnehmen, die von den Gliedkirchen im Zuge eines Souveränitätsverzichts an die EKD übertragen werden.
Formuliert nun ein Dachverband, der vom teilweisen Souveränitätsverzicht seiner Mitglieder lebt, Forderungen, die nicht nur die Souveränitätsrechte der Mitglieder beschränken wollen, sondern sogar Kriterien nennen, die über die Weiterexistenz ebendieser Mitglieder entscheiden, dann ist damit eine Kompetenzüberschreitung gegeben – es sei denn, es läge ein eindeutiger, demokratisch zustande gekommener Prüfauftrag vor. Formuliert ein kirchlicher Dachverband ohne eindeutigen Auftrag solche Forderungen, handelt es sich um eine Fehleinschätzung des eigenen ekklesialen Status und somit um eine Verabschiedung von denjenigen Prinzipien, die nach reformatorischem Verständnis für die Lehre von der Kirche wesentlich sind.
Nun ist die Forderung des Impulspapiers, bis zum Jahr 2030 die Zahl der Landeskirchen auf höchstens acht bis zwölf zu reduzieren und sich im Zuschnitt der Kirchengebiete an den Grenzen der größeren Bundesländer zu orientieren, keine isolierte Forderung, sondern Teil eines Gesamtkonzepts. Dieses Gesamtkonzept zielt auf die weitergehende Aufgabe der landeskirchlichen Souveränitätsrechte und damit auf eine Verschiebung des innerkirchlichen Macht- und Entscheidungsgefüges von den Landeskirchen hin zur EKD. Die nach der gängigen Reformlogik, wonach größere Einheiten besser lebensfähig sind als kleinere, scheinbar vernünftige Forderung nach landeskirchlichen Fusionen ist somit weniger Ziel als vielmehr Mittel, um dem weiterführenden Ziel der Übernahme vormals landeskirchlicher Souveränitätsrechte näher zu kommen: Fusionen verbrauchen aufgrund interner Reibungsverluste eine Menge Energie; es darf wohl spekuliert werden, dass in dieser Situation die Fusionspartner erleichtert sind, wenn ihnen Aufgaben von außen abgenommen werden.
Evangelische Zentralisierungstendenzen
Wenn aber die entscheidende Absicht des Impulspapiers darin bestanden hat, einen Zentralisierungsprozess innerhalb des deutschen Protestantismus auszulösen und dabei die Verwaltung und die leitenden Gremien der EKD als Handlungsträger zu präsentieren, dann stellt sich die Frage, ob diese Absicht in den vergangenen sechs Jahren zumindest punktuell zur Verwirklichung gekommen ist. Tatsächlich ist bei genauerem Hinsehen festzustellen, dass außer einigen Fusionen von Landeskirchen (Kirche in Berlin Brandenburg – schlesische Oberlausitz, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, Evangelische Kirche in Norddeutschland) vor allem in einem kirchlichen Handlungsfeld eine zunehmende Zentralisierung stattgefunden hat, nämlich in der evangelischen Publizistik.
Hier hat die EKD mit aller Macht versucht, die landeskirchlichen Aktivitäten unter dem Dach des früheren „Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik“ (GEP) zu zentralisieren. Inzwischen hat sie das GEP als ein Kompetenzzentrum im Sinne von „Kirche der Freiheit“ zu diesem Zweck in das Kirchenamt der EKD eingegliedert. Die EKD ist nun – nach dem Ausscheiden der evangelischen Landeskirchen und anderer evangelischer Einrichtungen aus der Gesellschafterversammlung – Alleingesellschafter des GEP, das nach dem Willen der EKD offenbar alle publizistischen Aktivitäten der Landeskirchen übernehmen soll.
In diesem Sinne wurde in den vergangenen Jahren massiv versucht, die unabhängigen Landesdienste der Nachrichtenagentur „Evangelischer Pressedienst“ (epd) in eine GEP-GmbH einzugliedern, was vorläufig gescheitert ist. In diesem Sinne wird derzeit versucht, über eine so genannte „Arbeitsgemeinschaft evangelischer Wochenzeitungen“ Strukturen zu schaffen, die eine Eingliederung der landeskirchlichen Sonntagsblätter in das GEP ermöglichen soll. Das GEP bedient sich dabei des „Evangelischen Medienverbandes in Deutschland“ (EMVD), der bei seiner Gründung 2005 eigentlich die Position der landeskirchlichen Presse- und Medienverbände stärken sollte, was ihm aber seither gründlich misslungen ist (siehe dazu nur: www.emvd.de).
Dieser Befund, sowohl was die Konzentrationsprozesse in der Publizistik als auch die Forderung zur Fusion von Landeskirchen betrifft, stimmt nachdenklich. Innerhalb der EKD scheint kaum noch ein Problembewusstsein dafür zu existieren, dass „auch eine zunächst die äußere Gestalt betreffende Kirchenreform […] aus der inneren Notwendigkeit des Lebens der Kirche selbst“ kommen muss, um es mit dem Worten von Karl Barth aus der bereits genannten Schrift aus dem Jahr 1933 zu sagen. Aus der Sicht reformatorischer Ekklesiologie ist es dabei unerheblich, ob die von außen herangetragene Motivation zur Kirchenreform wie damals politisch oder wie heute ökonomisch begründet wird.
Theologische Steigbügel für die Fusionspolitik der EKD
Eben weil es keine theologische Notwendigkeit zur Umkehrung des Machtverhältnisses zwischen der EKD und den Landeskirchen gibt, ist zu erwarten, dass die angekündigten theologischen Bemühungen des „Think-Tanks“ der „Kirche im Aufbruch“ zum großen Teil darin bestehen werden, die theologische Bedeutungslosigkeit des Landeskirchenprinzips aufzuweisen.
Einen Vorgeschmack darauf gab unlängst der Vizepräsident und „Cheftheologe“ des EKD-Kirchenamtes Thies Gundlach, einer der maßgeblichen Autoren von „Kirche der Freiheit“, in einem Vortrag vor Mitgliedern kirchlicher Gerichte am 4. Februar 2012 in Landau/Pfalz. Von Dingen, die man nicht erklären könne, indem man einen kausalen Grund oder eine Funktion nenne, müsse man eine Geschichte erzählen, meinte er, und erzählte die Geschichte, warum die alten Volkswagen Trittbretter unter den Türen hatten. Diese Autos, so Gundlach in Anlehnung an den Philosophen Hermann Lübbe, seien „die Fortführung der Postkutschen mit anderen Mitteln“. Postkutschen benötigten wegen ihrer hohen Räder Trittbretter, aber beim VW hätten diese ihre Funktion verloren. Solche Geschichten müsse man auch im Blick auf die Landeskirchen erzählen, um zu erklären, wieso diese Relikte aus dem 19. Jahrhundert noch immer existierten.
Gundlach präsentierte die herkömmliche Begründung für das Prinzip des Landeskirchentums als eine Theorie der Bekenntnisprägung; aber genau diese bekenntnisprägende Funktion der Landeskirchen existiere heute nicht mehr und werde nur noch von einigen „Hauptamtlichen und Hochverbundenen“ ins Feld geführt. Sowohl an der „Möbelwagenkonversion“ als auch an der Herkunftsgeschichte der gegenwärtigen Generation der Leitenden Geistlichen könne man erkennen, dass die Bekenntnisbindung keine glaubensgründende Rolle mehr spiele. Faktisch berufe man sich in allen EKD-Gliedkirchen einzig auf das reformatorische Verständnis, wonach „Kirche“ eine Gemeinschaft bezeichne, „die mit Predigt und Sakrament das Evangelium verkündigt“.
Aufgrund der Einsicht in die Geschichtlichkeit der Bekenntnisse haben aber vor 40 Jahren lutherische, reformierte und unierte Kirchen auf der Grundlage eines festgestellten gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums und der Sakramente den Text der „Leuenberger Konkordie“ unterzeichnet und damit erklärt, dass zwischen ihnen keine kirchentrennenden Gegensätze mehr vorlägen. Die „Leuenberger Konkordie“ bilde „das Gemeinsame der verschiedenen Konfessionen ab, ohne deren je eigene Schätze zu verachten“ – und eben dieses werde „durch die EKD gewahrt und gestärkt“. Und da die Gliedkirchen der EKD faktisch in „wesentlichen Fragen des kirchlichen Lebens und Handelns“ nach übereinstimmenden Grundsätzen verführen, sei es nicht „Folge eines falschen Zentralismus, sondern Folge einer Bekenntnissituation, die das ‚cuius regio, cuius religio’ aufgehoben“ habe.
Gundlach präsentiert die „Leuenberger Konkordie“ als modernen Bekenntnistext, der, ähnlich wie die reformatorischen Bekenntnisschriften, eine bestimmte Herausforderung, in diesem Falle die Mobilität im Nachkriegsdeutschland, zum Anlass einer Standortbestimmung der Glaubensgemeinschaft macht. Die Konkordie habe möglich gemacht, was noch während der Barmer Bekenntnissynode 1934 unmöglich war, dass nämlich „die gemeinsam im Widerstand stehenden evangelischen Christen nicht gemeinsam Abendmahl feiern konnten“, und sie habe nach 40 Jahren „faktisch die Rolle eines gemeinsamen bekenntnisartigen Referenztextes für alle reformatorischen Traditionen in der EKD übernommen“.
Nicht erst seit 2006 dreht sich die Frage nach der ekklesialen Qualität der EKD um die Frage nach einem gemeinsamen Bekenntnis aller EKD-Gliedkirchen. Immer wieder gab es Vorstöße, der Confessio Augustana diese Funktion zuzuschreiben, was jedoch am Einspruch der reformierten und unierten Kirchen scheiterte. Der Versuch, den Text einer Konkordie, die zum Zweck der Herstellung von Kirchengemeinschaft formuliert wurde, zum Bekenntnistext umzuwidmen und zum „EKD-Bekenntnis“ zu machen, führt in der Sache nicht weiter. Grundsätzlich war ja die EKD auch vor 1973 nicht bekenntnislos: Sie bekennt sich in ihrer Grundordnung immerhin zu Jesus Christus als dem einen Herrn der Kirche, zum Evangelium, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt wird, zu den altkirchlichen Symbolen und zu den in ihren Gliedkirchen geltenden reformatorischen Bekenntnisschriften. Außerdem bejaht sie die von der Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Aussagen über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche.
Vor diesem Hintergrund kann die Leuenberger Konkordie nichts anderes leisten als die Möglichkeitsbedingungen für die Erklärung von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft – und damit von Kirchengemeinschaft – zu formulieren: Die unterschiedlichen reformatorischen Bekenntnisse sind nicht mehr kirchentrennend, weil die Konkordie eine Lesart reformatorischer Theologie präsentiert, die lutherischen, reformierten und unierten Christen ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums und der Sakramente, vor allem des Abendmahls, ermöglicht – mehr nicht. Die Konkordie ist keine Superstruktur, die über die hergebrachten Bekenntnisse gelegt wird und diese überbietet, sondern lediglich eine Anleitung zum gemeinsamen Bekennen Gottes trotz unterschiedlicher Bekenntnisse und – daraus folgend – unterschiedlicher Kirchenordnungen. Es ist eine Überfrachtung dieses Textes, wenn ihm die einem Bekenntnis wesensmäßig zukommende konstituierende Funktion für kirchliche Ordnung zugeschrieben wird.
Von synodal-demokratischer Partizipation zur betriebswirtschaftlichen Führungskultur
Würde jedoch die Rechnung aufgehen, die „Leuenberger Konkordie“ unter der Hand zum EKD-Bekenntnis zu machen, und würden sich die Landeskirchen tatsächlich die der einschlägigen Argumentation zugrunde liegende Logik zu eigen machen, würden die Defizite einer Konkordie gegenüber einem Bekenntnis den „Reformern“ von „Kirche der Freiheit“ in einer entscheidenden Frage in die Hände spielen. Eben weil die Konkordie kein Bekenntnis ist und lediglich die Möglichkeitsbedingungen zur Erklärung von Kirchengemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen zum Inhalt hat, nennt sie keinerlei Kriterien zur Konstituierung kirchlicher Ordnung. Die „Leuenberger Konkordie“ könnte theoretisch auch von einer hierarchisch geordneten Bischofskirche unterzeichnet werden; in ökumenischen Arbeitskreisen evangelischer und römisch-katholischer Theologen wurde schon in diese Richtung diskutiert.
Die „Leuenberger Konkordie“ macht das synodal-presbyteriale Leitungsprinzip keineswegs verpflichtend, und deshalb würde ein Umbau der synodalen Strukturen, wie ihn „Kirche der Freiheit“ anvisiert, nicht gegen ein etwaiges „Leuenberger Bekenntnis“ verstoßen. Im Impulspapier wird folgende Richtung angegeben: „Für eine klare Zuordnung von Leitungsverantwortung in der Kirche, eine Öffnung für moderne, schnelle Entscheidungswege, eine deutliche Unterscheidung zwischen Geschäftsführung und geistlicher Aufsicht können sich auch kirchliche Institutionen Elemente einer modernen Führungskultur zu Nutze machen. Die jetzigen synodalen Strukturen, die ganz überwiegend den Gedanken der Partizipation und Beteiligung in den Mittelpunkt stellen, sind in bewusster Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt entstanden und bedürfen – wie andere kirchliche Handlungsfelder auch – einer kritischen Prüfung im Blick auf ihre Zielorientierung und Effektivität.“
Im Klartext bedeutet dies: War bisher die synodale Struktur ein Garant dafür, dass durch geregelte demokratische Verfahren eine möglichst breite Partizipation an der Macht gewährleistet war, so wird jetzt erwogen, die synodale Struktur funktional in eine betriebswirtschaftliche Führungskultur einzubauen. Synoden dienen dann nicht mehr der Partizipation an Macht, sondern lediglich der Legitimation von Macht. Damit hält man zwar formal am synodalen Prinzip fest (als einem „kirchlichen Handlungsfeld“ unter vielen), hat es aber inhaltlich entscheidend ausgehöhlt. Synoden, die sich nicht mehr dem inhaltlichen Diskurs über die Vorzüglichkeit von Zielen verpflichtet fühlen, sondern nur noch im Dienst einer effektiven Erreichung von Zielen, die von übergeordneten Leitungsstellen zur Umsetzung vorgegeben werden, stehen, sind keine Synoden mehr im Sinne evangelischer Kirchenordnungen, sondern innerbetriebliche Planungsstäbe.
Aber man täusche sich nicht. In der Kirche, auch in einer mächtiger gewordenen EKD, wird die beschworene „moderne Führungskultur“ immer eine altbekannte Form annehmen: das episkopale System, wie es der römisch-katholischen Kirche eigen ist. Wirkliche Führung in der evangelischen Kirche sieht anders aus, und auch dazu hat Karl Barth 1933 das Nötige gesagt: „Warum soll es nicht auch in der Kirche wirkliche Führung geben? Aber sinnvoll wäre doch auch und gerade in der Kirche erst dann davon zu reden, wenn sie Ereignis wäre. In Luther und Calvin war sie Ereignis. Es war ihnen nicht kraft eines besonderen Amtes, ja sogar ohne daß sie nachträglich Träger eines solchen besonderen Amtes werden mußten, sondern sehr schlicht im Rahmen ihres gewöhnlichen Amtes als Prediger und Professoren in Wittenberg und Genf faktisch gegeben, die Kirche zu führen, sehr autoritär, sehr geistlich, aber vor allem sehr wirklich. Wäre ein Luther oder ein Calvin einfach da in unserer Gegenwart, dann wäre das ‚Führerprinzip’ sinnvoll und zwar ohne die Einführung eines besonderen Bischofsamtes“ – und auch ohne die Einführung von „Elementen einer modernen Führungskultur“, könnte man ergänzen.
Es gehört zu den Grotesken der durch das Impulspapier 2006 angestoßenen Debatte, dass der sogenannte „Reformprozess“ genau in die Dekade zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 hinein geplatzt ist. Nach dem Willen der damaligen Verantwortlichen im Rat der EKD sollte die „Reformationsdekade“ auf 2017 hin eine deutliche Personalisierung auf Luther erfahren und zur „Lutherdekade“ werden – wegen der Verwechslungsgefahr von „Reform“ und „Reformation“.
Hier hatte das schlechte Gewissen, der permanente Begleiter des Protestanten, dann doch ganze Arbeit geleistet. Es ist dem Sachverstand des wissenschaftlichen Beirats der „Reformationsdekade“ zu verdanken, dass sich der Vorschlag zur Personalisierung nicht durchsetzen konnte und die EKD wenigstens in dieser Frage „bei der Sache“ bleiben musste. Aber vielleicht schärft der Blick auf Luther und die anderen Reformatoren ja doch noch den Blick dafür, dass nicht jede Reform reformatorisch ist, und dass es deshalb zur Freiheit in einer jeden evangelischen Kirche gehört, die „Kirche der Freiheit“ abzulehnen.