Sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum
Versuch einer Aufarbeitung mit besonderem Blick auf die EKiR
Von Hans-Jürgen Volk
In Zeiten, in denen es mit der Klima-Krise, der Corona-Pandemie oder dem Krieg in Europa und seinen Folgen, eine kräftezehrende Häufung von Herausforderungen gibt, sind sowohl die evangelische wie die katholische in einer denkbar schlechten Verfassung. Die Austrittszahlen erreichen Rekordniveau. Zusätzlich sorgt die negative Bilanz bei Taufen und Sterbefällen für Mitgliederverlust. Die Kirchen würden eigentlich gebraucht als Orte, die in diesen schwierigen Zeiten Halt und Orientierung bieten sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Diese Aufgabe können sie allerdings nur bedingt erfüllen.
Eine Ursache für diese Situation sind unter anderem die zahlreichen Fälle von sexualisierter Gewalt bei beiden Kirchen. Man verliert an Glaubwürdigkeit, wenn in einer Kirche, die in ethischer Hinsicht Orientierung geben will und teilweise strenge Maßstäbe bei der Sexualmoral propagiert, in großem Ausmaß bedrückende Fälle von sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt vorkommen. Schlimm ist, dass leitende Verantwortliche in beiden Kirchen Fälle von sexuellem Missbrauch tabuisiert sowie die Täter geschützt haben.
Am Pranger steht vor allem die katholische Kirche. Ob dies angemessen ist, kann nach dem heutigen Kenntnisstand kaum sachgemäß beurteilt werden. Im katholischen Raum existieren bereits zahlreiche Gutachten und Studien, der bedrückende Missstände zu Tage gefördert haben. Zuletzt wurde ein Gutachten veröffentlicht, das die Zustände im Erzbistum Münster zum Gegenstand hat. Einmal mehr wurde deutlich, dass es die intransparenten Machtstrukturen sind, die sexuelle Übergriffe begünstigt haben. Täter, die sich an Minderjährigen vergingen, wurden schlicht versetzt, um an der neuen Wirkungsstätte ihr Treiben ungerührt fortzusetzen. Leitende Verantwortliche im kirchlichen Raum war es wichtig, dass nur ja nichts an die Öffentlichkeit dringt. Der Schutz des Ansehens der Kirche stand und steht teilweise bis heute eindeutig über dem Schicksal der Missbrauchsopfer.
Ist dies in der evangelischen Kirche tatsächlich anders? Dies darf bezweifelt werden! Bis heute wird es z.B. Presbyterien der rheinischen Kirche untersagt, bei einem Fehlverhalten kirchlicher Mitarbeiter öffentlich Stellung zu beziehen. Im Rahmen des „synodalen Weges“ der katholischen Kirche wird offensiv über Gewaltenteilung diskutiert. Für wichtige Verantwortungsträger der evangelischen Kirche ist dies bis heute ein rotes Tuch. Machtkontrolle und Transparenz? – Nein danke! Erst kürzlich hat die EKD eine Studie zum Thema „sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche“ in Auftrag gegeben. Ergebnisse liegen naturgemäß noch nicht vor. Die „Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ der Bundesregierung Kerstin Claus sieht hier eine Lücke zwischen evangelischer und katholischer Kirche. „Die evangelische Kirche hinkt ein paar Jahre hinterher.“ (Interview in der „Frankfurter Rundschau“ vom 02.08.22 S.3) Schließlich sind mehrere Studien mit lokalem Charakter im Umfeld der Ev. Kirche im Rheinland in Arbeit. Ergebnisse liegen auch hier noch nicht vor.
Die Grenzen des guten Willens
Was Kerstin Claus diplomatisch umschreibt, ist eine fragwürdige Einseitigkeit im Blick auf die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt bei der EKD und der Ev. Kirche im Rheinland (EKiR): im Gegensatz zur katholischen Kirche, wo in mehreren Gutachten strukturelle Probleme und insbesondere das Fehlverhalten einzelner Bischöfe dokumentiert wird, gibt es auf der evangelischen Seite keine öffentlichkeitswirksame, selbstkritische Reflektion kirchenleitenden Handelns. Gewiss, die EKiR hat Vieles auf den Weg gebracht. Das Bemühen um Prävention sowie Beratungsangebote und Hilfestellungen für Betroffene stehen im Vordergrund. Bereits 2002 erschienen Leitlinien zum Umgang mit sexualisierter Gewalt, 2012 veröffentlichte die EKiR unter dem Titel „Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden“ eine Schrift, die sexuellem Missbrauch entgegenwirken sollte. Seit etlichen Jahren gibt es Beratungsangebote für Missbrauchsopfer. Ebenso ist ein Hilfsfond eingerichtet worden. Neuerdings müssen ehren- und hauptamtlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Außerdem sollen Gemeinden und Einrichtungen der EKiR Schutzkonzepte entwickeln, um sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum vorzubeugen. Verpflichtende Fortbildungen für die verschiedenen Leitungsebenen der EKiR sind vorgesehen.
All dies ist mehr oder weniger sinnvoll. Der gute Wille zur Prävention ist vorhanden. Die Entschlossenheit, eine beschämende Vergangenheit aufzuarbeiten und den strukturellen Ursachen von sexueller Gewalt im kirchlichen Raum nachzugehen ist bestenfalls in schwachen Ansätzen wahrzunehmen.
Werden Menschen in kirchliche Leitungsämter gewählt, so geschieht dies in der Erwartung, dass sie die Institution positiv voranbringen. Derartige Verantwortungsträger werden ihrerseits die Motivation haben, ihre Kirche gedeihlich zu gestalten und Schaden von ihr abzuwenden. Dies ist nachvollziehbar. Allerdings ergibt sich bei gravierendem Fehlverhalten einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder ganzer Leitungsgremien ein Zielkonflikt. Sollte das Fehlverhalten öffentlich werden, entsteht daraus möglicherweise Schaden für die Kirche. In der Vergangenheit führte dies allzu oft zu einer fatalen Unkultur des verordneten Schweigens. Faktisch standen eben nicht die Belange der Opfer, sondern die Interessen der Kirche im Vordergrund. Letztlich fügte man hierdurch den Betroffenen zu den täterverursachten Traumata noch weitere seelische Schäden hinzu. Das oft recht autoritäre Bemühen, durch Verschweigen, Beharren auf Vertraulichkeit und der engherzige Hinweis auf dienstrechtliche Aspekte, die letztlich dem Täter nützen, gleicht also einer paradoxen Intervention. Indem man die Interessen der von Missbrauch Betroffenen eben nicht vorrangig behandelt, sondern faktisch die Belange der Kirche an die erste Stelle rückt, schadet man dieser umso mehr.
Erfahrungen verweisen auf strukturelle Defizite
Auf Grund bisher kaum vorhandener Studien und Gutachten, ist ein empirischer Befund über das Ausmaß von sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche kaum zu führen. Es gibt allerdings zahlreiche Erfahrungen und Geschichten, die vermuten lassen, dass die Problematik bei evangelischen Einrichtungen und Körperschaften ein ähnliches Gewicht hat wie in der katholischen Kirche.
Das evangelische Internat
Ich verweise auf eine ganz persönliche Erinnerung. Die Freundin einer nahen Verwandten kam oft während meiner Kindheit zu Besuch. Dem kleinen Jungen erzählte sie immer wieder von traumatischen Erfahrungen in einem evangelischen Internat. Bereits wegen geringfügiger Vergehen wurde sie in einen Kellerraum zum Internatsleiter bestellt. Dieser nötigte das kleine Mädchen, sich zu entkleiden und über einen Tisch zu legen. Mit einem Stück Gartenschlauch wurde sie dann verprügelt. Außerdem kam es zu sexuellen Übergriffen. Auch anderen Internatsschülerinnen widerfuhr dies regelmäßig. Dabei genoss die Einrichtung nach außen hin einen hervorragenden Ruf. Es war die Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Über Sexualität sprach man nicht. Und ein Internatsleiter war unantastbar. Körperliche Züchtigungen waren im Übrigen damals an der Tagesordnung. Auch im fortgeschrittenen Alter litt die Frau unter den Traumata der Kindheit. Sie war nie eine Beziehung mit einem Mann eingegangen. Sexualität war für sie etwas Dunkles, Ekelerregendes.
Täter, die derart destruktiv Einfluss nehmen auf die Biographie einer Schutzbefohlenen, werden mitnichten ein positives Verhältnis zur Sexualität haben. Der Internatsleiter wusste nur zu gut, dass er massiv gegen Normen verstieß, die er nach außen hin mit Vehemenz vertrat. Bis in die 70-er Jahre hinein kam es in evangelischen Einrichtungen zu körperlichen Misshandlungen. Man kann davon ausgehen, dass die Verhältnisse auch im Blick auf sexualisierte Gewalt ähnlich schlimm waren wie in katholischen Heimen oder Internaten.
Ein schändlicher Mentor
Die folgenden Darstellungen sind fiktiver Natur. Übereinstimmungen mit tatsächlichen Personen sind rein zufällig. Dennoch geht es um einen realen Kern. Was hier dargestellt wird, verweist auf tatsächliches Geschehen.
Eine junge Frau ist nervlich am Ende. „Pastorin im Hilfsdienst“ ist sie, so nannte man es damals Ende der 80-er, Anfang der 90-er Jahre. Sie war einem im Kirchenkreis hoch engagierten Pfarrer zugewiesen worden, um diesen zu entlasten. Es begann mit harmlosen Komplimenten, die ihr sogar schmeichelten. Doch dann suchte der Geistliche immer aufdringlicher körperliche Nähe zu der jungen Kollegin. Die Situation eskalierte, als er bei einem Konfirmandenwochenende jegliche Distanz vermissen ließ. Nur mit Mühe konnte sie die Übergriffe des verheirateten Kollegen abwehren. Nun suchte sie das Gespräch mit dem Superintendenten, schilderte ihm das Geschehene und äußerte den dringenden Wunsch, einer anderen Gemeinde zugewiesen zu werden. Dem wurde schließlich stattgegeben. Für den Pfarrer blieb das Ganze folgenlos. Im Gegenteil, im Kollegenkreis breitete er seine Version des Dramas aus und schilderte die Kollegin als überempfindlich und letztlich im Blick auf den Beruf einer Pfarrerin als überfordert. Es ist schändlich, dass der Ruf der jungen Frau beschädigt wurde. Dabei gab es eine Vorgeschichte: bereits einmal hatte eine junge Vikarin auf Grund von sexuellen Belästigungen des Pfarrers die Flucht ergriffen. Damals hatte der Superintendent der Vikarin eingeschärft, mit öffentlichen Anschuldigungen äußerst vorsichtig zu sein. Ansonsten drohten dienstrechtliche und eventuell sogar strafrechtliche Konsequenzen. Die junge Pastorin musste sich später ähnliche Ermahnungen anhören
Dornenfeld Kirche
In Personalangelegenheiten haben Superintendentinnen und Superintendenten eine vergleichbare Schlüsselposition inne wie Bischöfe der katholischen Kirche. Sie wissen, was in Personalakten steht. Und sie geben aus ihrer Sicht erwähnenswerte Tatbestände an die Landeskirche weiter, die diese in der jeweiligen Personalakte festhält.
Eine rheinische Kirchengemeinde wählt einen neuen Pfarrer. Rasch kommt ein Theologe in die engere Auswahl. Im Bewerbungsgespräch überzeugt er das Presbyterium. Der Superintendent, der das Presbyterium berät, formuliert eine sanfte Warnung: „Ich wäre bei diesem Bewerber vorsichtig. Vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal, auf diese Person zuzugehen.“ Der Superintendent weiß, dass der Bewerber eine Vorgeschichte hat. In früheren Gemeinden kam es zu Beschwerden von weiblichen Gemeindegliedern auf Grund von sexuellen Übergriffen. Seine Warnung ist allerdings so allgemein gehalten, dass sie keine Wirkung erzielt. Zudem schlägt sich der Bewerber bei Probepredigt und Katechese hervorragend. Das Presbyterium wählt ihn schließlich einstimmig zum neuen Pfarrer. Und in der ersten Zeit bereut man die Wahl nicht. Der neue Pfarrer hat Ausstrahlung. Seine Gottesdienste kommen gut an. Mit seinen musikalischen Fähigkeiten findet er guten Kontakt zu den Jugendlichen der Gemeinde. Doch nach einer Weile wachsen die Zweifel. Frauen unterschiedlichen Alters vertrauen sich Presbyteriumsmitgliedern an und berichten, oft im Rahmen von seelsorgerlichen Kontakten vom Pfarrer bedrängt worden zu sein. Schließlich kommt es zum Eklat. Der Pfarrer soll sich einer jugendlichen Mitarbeiterin, die noch keine 15 Jahre alt ist, sexuell genähert haben. Die Eltern des Mädchens sind in heller Aufregung. Ihre Versuche, bei Mitgliedern des Presbyteriums und beim Kirchenkreis auf die Missstände hinzuweisen, verlaufen aus ihrer Sicht unbefriedigend. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an eine Boulevardzeitung, die den Vorfall in reißerischer Aufmachung ausschlachtet. Der Fall wird nun auch von der regionalen Presse aufgegriffen. Der Pfarrer wird in dieser Situation zunächst beurlaubt. In einer gemeinsamen Sitzung von Presbyterium und Mitgliedern des Kreissynodalvorstands (der Leitung des Kirchenkreises) wird dem Presbyterium striktes Stillschweigen gegenüber der Öffentlichkeit verordnet. Selbst in persönlichen Gesprächen mit Gemeindegliedern solle man sich nicht äußern. Die Öffentlichkeitsarbeit würden Kirchenkreis und Landeskirche übernehmen. Auch Kontakte zu der betroffenen Familie sollten unterbleiben.
So entsteht eine Situation, in der der beschuldigte Pfarrer ohne Einschränkung seine Version der Geschehnisse unter die Leute bringen kann, während die Mitglieder des Presbyteriums kaltgestellt sind. Dies geht zu Lasten der Jugendlichen und ihrer Familie. Die Gemeinde ist gespalten. Ein großer Teil hält es für unmöglich, dass sich ihr angesehener Pfarrer zu derartigen sexuellen Übergriffen hat hinreißen lassen. Andere sind entsetzt. Das Mädchen ist schon seit längerem in therapeutischer Behandlung. Sie reagiert mit heftigen psychischen und physischen Symptomen auf das Geschehene. Statt Mitgefühl für die Jugendliche zu zeigen, wird der Tatbestand skandalisiert, dass sich die Familie an die Presse gewandt hat und so den Fall öffentlich machte. Bis heute gibt es in der Gemeinde und auch im Kirchenkreis Menschen in leitender Position, die sich dahingehend äußern und so das Opfer und seine Angehörigen an den Pranger stellen.
Es kommt schließlich zu einem Gerichtsverfahren, indem die Vorwürfe der Familie und der Jugendlichen bestätigt werden. Der Pfarrer wird in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Ein Disziplinarverfahren wird eingeleitet. Die Folgen sind relativ milde, wobei es sicherlich beschämend für einen ambitionierten Pfarrer ist, wenn sein berufliches Wirken viele Jahre vor dem eigentlichen Ruhestand beendet wird.
Auch nach diesem Gerichtsverfahren wird dem Presbyterium von Seiten des Kirchenkreises dringend nahegelegt, sich nicht öffentlich zu dem Vergehen des Pfarrers zu äußern. Dass genau dies der Gerüchtebildung zu Lasten des Opfers Tür und Tor öffnet, bleibt nicht aus. Offenkundig existiert ein strukturelles Misstrauen gegenüber der Kompetenz von Presbyterien, mit derartigen Situationen angemessen zu verfahren. Dieser Missstand existiert bis heute. Und oft gibt es keine wirksame Kommunikationsstrategie von Seiten der Kirchenkreise oder der Landeskirche, der Öffentlichkeit vergleichbare Vorgänge plausibel zu machen. Man gibt nichtssagende Erklärungen ab und schweigt dann. Für die Opfer ist dies einmal mehr traumatisch. Man fühlt sich von der Institution Kirche im Stich gelassen, da keine öffentlichkeitswirksame Parteinahme erfolgt
Nach einigen Jahren ist aus der Jugendlichen eine junge Frau geworden. Sie übernimmt die Leitung eines Gemeindekreises, was nach der Vorgeschichte ein kleines Wunder ist. Das Presbyterium fasst einstimmig einen Beschluss, indem dieser Vorgang begrüßt wird. Hierauf wird auch in einer Notiz im Gemeindebrief hingewiesen.
Noch einmal später erfährt die Frau vom Hilfsfond der rheinischen Kirche zu Gunsten der Opfer sexualisierter Gewalt. Sie nimmt Kontakt zu kirchlichen Mitarbeiterinnen auf, die verantwortlich für dieses Arbeitsfeld sind. Hier macht sie gute Erfahrungen. Sie wird ermutigt, einen Antrag auf Hilfeleistung zu stellen. Der Antrag wird abgelehnt. Tatsächlich kriegt es die Kommission, die über die Anträge zu entscheiden hat, hin, eine Ablehnung zu formulieren, obwohl der Tatbestand des Missbrauchs gerichtsfest belegt ist. Was macht das mit einem Menschen? Es findet eine Retraumatisierung statt. Man hat sich gegenüber der Institution Kirche geöffnet und erfährt Ablehnung. Das verletzt, wie rational auch immer die Begründung für einen ablehnenden Beschluss sein mag.
Die Vermutung liegt nahe, dass bei der Konstruktion dieses „Hilfsfonds“ die Juristen die Psychologen und Seelsorger überstimmt haben, wenn letztere überhaupt an dem Verfahren beteiligt waren. Es wird der Eindruck erweckt, als ginge es primär um eine sozial motivierte Hilfeleistung. Die Begriffe „Entschädigung“ oder „Wiedergutmachung“ werden vermieden. Zum Ausdruck gebracht werden soll, dass man das Leid der Betroffenen anerkennt. Von einem schuldhaften Versagen der Institution Kirche ist schon gar nicht die Rede. Offenbar möchte man die Finanzen der rheinischen Kirche vor dann gerichtlich einklagbaren Entschädigungszahlungen schützen. Erneut drängt sich der Eindruck auf, dass man die Interessen der Kirche höher gewichtet als die Belange der im kirchlichen Raum Geschädigten.
Der Raum der Kirche erweist sich für die von sexualisierter Gewalt und Missbrauch Betroffenen allzu oft als Dornenfeld. Neben dem Trauma des Missbrauchs, das wie eine schmerzhafte Tätowierung die eigene Lebensgeschichte zeichnet, gibt es immer wieder neue Verletzungen durch strukturelle Defizite und falsche Prioritätensetzungen leitender Personen der Kirche.
Das hat Folgen. War das zuvor Dargestellte eine Fiktion mit einem realen Kern, möchte ich nun konkreter werden. Zwei Schwestern mittleren Alters besuchen mich auf Grund eines Trauerfalls in ihrer Familie. Ich kenne sie noch nicht, denn sie wohnen weit entfernt von unserer Kirchengemeinde. Das Trauergespräch nimmt einen normalen Verlauf. Ich spüre bei den beiden Frauen eine deutliche Zurückhaltung, ja Verkrampfung. Vorsichtig frage ich nach, ob sie etwas negativ berührt hat. „Da gab es tatsächlich unsägliche Berührungen. Aber das hat nichts mit Ihnen zu tun, Herr Pfarrer.“ – so platzt es aus einer der beiden heraus. Nun erzählen sie. Vor einigen Jahren gab es schon einmal einen Todesfall in Ihrer Familie. Das Trauergespräch verlief zunächst unspektakulär. Bei der Verabschiedung umarmte sie der Pfarrer nacheinander. Das war schon ungewöhnlich genug. Dabei kam es allerdings zu Berührungen mit eindeutig sexuellem Charakter. Die Einzelheiten, die die beiden mir schildern, machen mich fassungslos.
Eine junge Frau ist neu zugezogen. Sie möchte gerne in unserer Kirchengemeinde mitarbeiten. Wir verabreden uns zu einem Gespräch. Als sie mein Dienstzimmer betritt, wird sie leichenblass. „Ich kann das hier nicht ertragen!“ sagt sie. Der Raum erinnert sie an ein schlimmes Erlebnis. Wir gehen ins benachbarte Gemeindezentrum. Es wird ein intensives Seelsorgegespräch. Als Jugendliche hat sie ein Pfarrer in seinem Dienstzimmer sexuell missbraucht, deswegen konnte sie auch meinen Arbeitsraum nicht ertragen.
Im Laufe meins Pfarrerlebens bin ich einigen Fällen von sexueller Belästigung oder sexuellem Missbrauch begegnet. Was mich besonders empört war die Tatsache, dass das Seelsorgegespräch Einfallstor für sexuelle Übergriffe werden konnte. Ich wäre bereit gewesen, bei einem derartigen Befund gegen die Täter disziplinarische Schritte anzuregen. Die betroffenen Frauen wollten dies nicht. Der wesentliche Grund hierfür war, dass man der Institution Kirche nicht vertraut. Scham kam hinzu sowie der nachvollziehbare Wunsch, das Erlebte hinter sich zu lassen.
Was hilft?
Den Verantwortlichen in Leitungsämtern der rheinischen Kirche wird man den guten Willen zur Prävention von sexualisierter Gewalt nicht absprechen können. Der ist erkennbar vorhanden. Allerdings gelingt wirksame Prävention nur dann, wenn eine selbstkritische Reflektion der Vergangenheit erfolgt. Und die ist bei den Landeskirchen der EKD nur schwach entwickelt.
Daher folgende Anregungen, die gewiss ergänzt werden könnten und sollten:
- Es geht um Vertrauen! Betroffene von sexualisierter Gewalt sollten den Eindruck haben, dass ihre Schilderungen ernst genommen werden. Die Fürsorgepflicht der Kirche ihnen gegenüber hat in moralischer Hinsicht ein weitaus größeres Gewicht, als die rechtlich begründete Fürsorgepflicht gegenüber einem zum Täter gewordenen kirchlichen Mitarbeiter. Dies muss auch öffentlich erkennbar und für die Betroffenen erfahrbar werden.
- Es ist zu begrüßen, dass die rheinische Kirche einen Fond zur finanziellen Unterstützung von sexualisierter Gewalt Betroffenen eingerichtet hat. Allerdings bedarf die Konstruktion diesen „Hilfsfonds“ dringend der Überarbeitung. Es ist ein Unding, wenn ein Antrag abgelehnt wird, obwohl ein sexueller Missbrauch seitens eines kirchlichen Mitarbeiters stattgefunden hat und dies sogar von Gerichten bestätigt wurde.
- Natürlich ist es problematisch, in einem laufenden verfahren Stellung zu beziehen. Die Kirche hat allerdings nach Klärung der Tatbestände unmissverständlich Partei zu ergreifen für Opfer von sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum. Das Beharren auf Vertraulichkeit nützt vor allem den Tätern.
- Die rheinische Kirche legt bisher ihren Schwerpunkt bei der Prävention vor allem auf die Arbeit vor Ort in den Gemeinden und Einrichtungen. Es gibt jedoch Anhaltspunkte dafür, dass leitende Verantwortungsträger in Fällen sexuellen Missbrauchs ähnlich verfahren haben, wie Bischöfe im Raum der katholischen Kirche. Eine selbstkritische Reflektion sowie ein Diskurs über Transparenz, Machtkontrolle und Gewaltenteilung ist geboten. Im Rahmen des „synodalen Weges“ stellt sich die katholische Kirche dieser Herausforderung.