Bergauf geht es kaum!

Strukturprobleme des Landkreises Altenkirchen

Ich bin unterwegs von Bad Marienberg nach Eichelhardt. Neben mir sitzt meine 95-jährige Mutter. „Ist der Westerwald einmal schön!“ sagt die gebürtige Kölnerin. Die Westerwälder Landschaft hat es ihr angetan. Und beeindruckt ist sie, wie sich die vor Jahrzehnten noch ziemlich rustikal anmutenden Dörfer entwickelt haben. Gepflegte Häuser und Gärten und etliche Neubauten deuten auf den wachsenden Wohlstand der Dorfbewohner hin. Wir fahren durch Nauroth, Rosenheim und Steineberg. Keine Frage, da hat sich viel getan.

Mir fällt jedoch auf, dass es in der Ortsmitte immer wieder ehemalige Ladenlokale mit runtergelassenen Rollläden gibt. Bäckereien, Metzgereien oder kleine Lebensmittelgeschäfte gibt es in den Westerwalddörfern kaum noch. Auch der Bestand an Gastronomie hat sich deutlich reduziert. Keine Frage, dies ist ein Verlust an Lebensqualität, was wir auch in meinem Heimatdorf Eichelhardt wahrnehmen. Vor Jahren gab es da noch 3 Gaststätten, eine Metzgerei und eine Bäckerei sowie einen kleinen Raiffeisenmarkt. Heute ist davon nichts mehr übrig.


Strukturwandel mit Folgen

Über dem Siegtal lag in den 60-er Jahren viel Ruß und Rauch in der Luft. Das Landschaftsbild in Wissen oder Herdorf war von mächtigen, kahl-grauen Schlackehalden geprägt, die die Ortschaften in Gebirgsgröße überragten. Der Bergbau und die Stahlindustrie waren damals wichtige Wirtschaftsfaktoren. In Betzdorf war es die Bahn, die für Ruß- und Rauch sorgte. Es gab das Bahnbetriebswerk, in dem zahlreiche Dampfloks gewartet wurden. In kurzer Taktung fuhren in den stattlichen Betzdorfer Bahnhof Züge ein und aus. Auch von D-Zügen für den Fernverkehr wurde Betzdorf damals angefahren. Ein riesiger Güterbahnhof, der auch einer Großstadt gut zu Gesicht gestanden hätte, war bedeutsam für die Montanindustrie sowie etliche andere Firmen. Betzdorf war durch die Bahn groß geworden. Die Bahn war einer der größten Arbeitgeber in Betzdorf. Ganze Straßenzüge wie die Gäulenwaldstraße, die Weiherstraße oder die „Kolonie“ am Siegufer Richtung Wissen waren von Beamten und Angestellten der Bahn bewohnt. Bekannte Unternehmen wie „Wolf-Geräte“, „Nickel“ oder „Patt&Dilthey“ prägten die Identität einer Stadt im Aufschwung. Attraktive Einzelhandelsgeschäfte belebten die Innenstadt.

Die Höhen oberhalb des Siegtals waren vor allem von der Landwirtschaft geprägt. Zahlreiche Kneipen und Gasthäuser stellten Begegnungsräume für ein intensives Vereinsleben zur Verfügung. Tanzlokale, Hotels und Ferienwohnungen waren die Infrastruktur für einen beachtlichen Tourismus. In der Verbindung mit einer reizvollen Landschaft war der Westerwald damals für etliche Gäste aus dem Ruhrgebiet oder dem Kölner Raum ein beliebtes Ausflugsziel. In den größeren Dörfern gab es noch eine Schule, meistens auch eine Post und einen Laden.

Das ist Vergangenheit. Unsere Region hat schon seit langem mit einem doppelten Strukturwandel zu kämpfen. Das Siegtal und die Nebenflüsse der Sieg Heller und Daade waren einst geprägt vom Bergbau, der Stahlindustrie und weiteren Industrieunternehmen. Die größten Arbeitgeber in Betzdorf waren mit Abstand die Bahn, dann folgte die Post und Firmen wie Wolf-Geräte. Diese identitätsbildenden Unternehmen gibt es heute nicht mehr in Betzdorf. Für diese Stadt, die durch die Bahn einst vom Dorf zu einem beachtlichen Mittelzentrum wurde, war dies ein harter Schlag. Einst kamen die Menschen nach Betzdorf zur Arbeit. Heute hat dieser Ort einen erheblichen Anteil an Pendlern in den Siegener Raum, ins Bergische Land oder sogar in die Köln-Bonner Region. Produzierendes Gewerbe gibt es nur noch in überschaubarem Ausmaß. Einst verfügte der Landkreis Altenkirchen über deutlich mehr Wirtschaftskraft als die beiden Westerwaldkreise, die später fusionierten. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt.


Hauptsache gesund? – Fast eine Überlebensfrage!

Bis vor kurzem hätte ich noch gesagt, dass wir in Deutschland über ein wirklich gutes Gesundheitssystem verfügen – trotz mancher Fehlsteuerungen z.B. durch Fallpauschalen, die eigentlich schon seit vielen Jahren spürbar sind. Warum trennen sich Kliniken in beängstigtem Ausmaß von Geburtshilfen und Kinderstationen? Bestimmt nicht, weil es den Bedarf nicht gibt! Jetzt zeichnet sich allerdings eine Situation ab, in der unser Landkreis über kein einziges Krankenhaus mehr verfügt. Unser Gesundheitssystem ist erkrankt durch den Virus „Ökonomisierung“. Und es wird nicht besser!

Das war mal völlig anders. Allein im Raum Betzdorf-Kirchen gab es vor Jahren 3 Krankenhäuser: Das Kreiskrankenhaus und ein kleines evangelisches Krankenhaus in Kirchen und ein städtisches Krankenhaus in Betzdorf. Bei meiner Familie war das evangelische Krankenhaus in Kirchen die erste Adresse. Da praktizierten Ärzte, die einen hervorragenden Ruf hatten. Nun steht auch das verbliebene Krankenhaus in Kirchen in Trägerschaft des DRK auf der Kippe. Sogar in Daaden gab es ein Krankenhaus. Bedeutsamer war das Krankenhaus in Wissen, dass vor einigen Jahren in eine Psychiatrie umgewandelt wurde. Auch das Krankenhaus in Altenkirchen ist seit diesem Jahr Geschichte.

Der Wegfall von zahlreichen Arbeitsplätzen, die zuvor im Altenkirchener DRK-Krankenhaus angesiedelt waren, ist für die Kreisstadt eine deutliche ökonomische Schwächung. Für den Raum Betzdorf-Kirchen wäre es ein vollendetes Desaster, wenn demnächst auch die Kirchener Klinik im angestrebten Westerwaldklinikum bei Hachenburg „aufgehen“ sollte. Es wäre ein weiterer, herber Nackenschlag, nachdem diese Region bereits in der Vergangenheit durch „Zentralisierung und Schwerpunktsetzung“ bei Bahn und Post und erst recht im Bankensektor Unglaubliches hat wegstecken müssen. Dass diesem Tatbestand Politikerinnen und Politiker, die sich eigentlich das Soziale auf die Fahne geschrieben haben, regelmäßig ausweichen, ist für mich völlig unverständlich. Es geht hier um einen weiteren Verlust an Arbeitsplätzen und Wirtschaftskraft.

Wichtiger noch als diese strukturpolitischen Aspekte ist die angeschlagene Gesundheitsversorgung. Vorab: hier ist in letzter Konsequenz die Politik verantwortlich, denn Gesundheit ist ein Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Warum erregt dieses Thema so viele Menschen gerade auch in unserer Region?

Für chronisch kranke und ältere Menschen ist es geradezu eine Überlebensfrage, ob ein Krankenhaus in erreichbarer Nähe ist und ob ich zeitnah Termine bei einem Hausarzt oder einem Facharzt erhalte. Da ist in unserem Landkreis ein deutlicher Abwärtstrend wahrzunehmen. Dies betrifft vor allem die Notfallmedizin. Noch zu Zeiten, als das Wissener Krankenhaus existierte, gab es im Winter bei Eis- und Schneeglätte und den damit verbundenen Knochenbrüchen Engpässe, vor allem wenn sich dies mit einer profunden Grippewelle verband. Spätestens seit der Abwicklung des Altenkirchener Krankenhauses gibt es diese Engpässe auch im Frühjahr und im Sommer. Im 14-Tage-Rhythmus, oft auch wöchentlich erzählen mir Menschen von aufreibenden Bemühungen der Rettungskräfte, eine freie Klinik zu finden. Die liegt dann oft weit entfernt vom Wohnort der Patienten. Für Unfallopfer mit multiplen Verletzungen, Herzinfarkt- oder Schlaganfallpatienten ist dieser Zeitverlust nicht selten lebensbedrohlich. Trotz den Erfahrungen der Corona-Pandemie hat man im nördlichen Rheinland-Pfalz massiv Kapazitäten abgebaut und Kliniken geschlossen. Mir drängt sich immer mehr der Eindruck auf, dass die Gesundheitsversorgung in unserer Region noch nicht mal alltagstauglich, geschweige denn krisenfest ist.


Verspieltes Vertrauen

Das Kliniken kooperieren wie Altenkirchen und Hachenburg ist gewiss sinnvoll. Nun entstand vor einigen Jahren der Plan, anstelle der beiden Standorte eine größere Klinik neu zu errichten. Der von vielen favorisierte Standort Giesenhausen wäre ein fairer Kompromiss gewesen. Doch auf der Grundlage eines fehlerhaften Gutachtens und eines prominenten Politkern namens Hering, der vor allem für die Menschen kämpft, die in Sichtweite der Hachenburger Kirchtürme leben, kam es zu der bizarren Entscheidung in Müschenbach, also in unmittelbarer Nähe von Hachenburg diese neue Krankenhaus zu errichten. Bereits hier wurde Vertrauen zerstört und Frust erzeugt.

Es gab immer wieder Bestandsgarantien für das Altenkirchener Haus bis zur Fertigstellung der neuen Klinik bei Hachenburg. Dann gab es die Insolvenz des Trägers DRK, der nun machte, was er wollte. Altenkirchen wurde bis auf ein verbliebenes MVZ aufgegeben. Das Agieren des DRK gegenüber Bürgern und Beschäftigten war grenzwertig, die Kommunikationen nach Außen erregte die Gemüter erst recht. Der Träger hat jedes Vertrauen verspielt. Ein Neuanfang ist jedenfalls unter der aktuellen Leitung der Trägergesellschaft kaum denkbar.

Vertrauen verspielt haben auch wichtige politische Akteure aus unserer Region. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Kommunalpolitiker gerade auch im Blick auf die Gesundheitspolitik mit den Vorgaben leben müssen, die von den Bundes- und der Landespolitik kommen. Erkennbar ist die Krankenhausreform aus dem Hause Lauterbach eher geeignet für die Ballungsräume mit einer erheblichen Dichte an Krankenhäusern. Schwerpunktsetzung, Spezialisierung und Zentralisierung funktioniert in einer Großstadt wie Köln mit Dutzenden von Kliniken leidlich gut. Der ländliche Raum bleibt hierbei auf der Strecke, wie die aktuellen Entwicklungen zeigen. Wenn dann noch ein Gesundheitsminister der Landesregierung sich zu der Aussage hinreißen lässt, die „Gesundheitsversorgung in unserer Region sei auch nach der Aufgabe des Krankenhauses in Altenkirchen auf hohem Niveau gesichert“, wird dies von vielen Bürgern als blanker Hohn empfunden, weil man vor Ort eben andere Erfahrungen macht.

In diesem Zusammenhang ergibt sich folgendes Problem: Vertrauen geht verloren, wenn Politiker Aussagen tätigen oder Versprechungen machen, denen oft genug eine gegenteilige Entwicklung folgt. Wie lange schon stellt man Bürokratieabbau in Aussicht? Ich kann die Zusage von „schneller, unbürokratischer Hilfe“ nicht mehr hören! Rede ich mit Handwerksmeistern oder auch mit Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, bekomme ich regelmäßig die Antwort, es würde eher immer schlimmer. Der Gesundheitsminister Lauterbach begründet seine Krankenhausreform unter anderem damit, dass hierdurch die Kliniken im ländlichen Raum gesichert werden sollen. Zeitgleich hat die Kreisstadt Altenkirchen kein Krankenhaus mehr, zahlreiche Kliniken im nördlichen Rheinland-Pfalz werden geschlossen. Man sollte keine Versprechungen mach, die man nicht einhalten kann oder will. Das kostet Vertrauen.


Was notwendig wäre

Keine Frage, was die Bundespolitik in diesen Zeiten abliefert, ist ein Trauerspiel. Demokratie lebt von Kompromissen. Politische Nötigungen nach dem Motto: „Jeder hat das recht auf meine Meinung“, fügen unserem Gemeinwesen Schaden zu. Dies schlägt durch bis auf die kommunale Ebene. Kommunalpolitiker müssen notgedrungen mit den Vorgaben leben, die die Bundes- und auch die Landespolitik setzt.

Umso notwendiger wäre der entschlossene Einsatz für die Interessen der Menschen in unserer Region. Denn politische Konzepte werden oft genug aus großstädtischer Perspektive heraus entwickelt. Es gehört Zähigkeit und Mut dazu, hier die Belange strukturschwacher, ländlicher Regionen zu thematisieren. Daran fehlt es aus meiner Sicht. Und das wäre so nötig! Mehr denn je geht es darum, ein weiteres Ausbluten unserer Region zu verhindern.


Hans-Jürgen Volk

 

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