Der ländliche Raum unter Druck

Impressionen aus dem nördlichen Rheinland-Pfalz

Wir sind zu Besuch an der Mosel. 12 Jahre lang habe ich in Zell gelebt und gearbeitet – vom Ende der 80-er bis zum Ende der 90-er Jahre. Es geht um die Pflege von Beziehungen zu Verwandten und Freundinnen und Freunden.

Außerdem entfaltet die Mosellandschaft im Spätsommer, es ist Anfang September, ihre Reize in besonderer Weise. Doch recht bald ist meine Laune im Keller. Ich erfahre, dass das Krankenhaus in Zell, in dem ich oft als Seelsorger tätig war, nun doch geschlossen werden soll. Schon seit Längerem ist es gefährdet. Zwischendurch sah es so aus, als könne es dennoch gerettet werden. Jetzt hat der Kreistag des Landkreises Cochem-Zell die Abwicklung des Krankenhauses beschlossen – trotz aller Bedenken. Man war vor die Alternative gestellt, dass man sich entweder von der Klinik in der Kreisstadt Cochem oder der in Zell verabschieden müsse. Dieser listige Impuls kam offenbar von der Landesregierung. Was ich in den kommenden Tagen höre, erinnert mich sehr an unsere Situation in Altenkirchen. Dort wurde das ehemalige Kreiskrankenhaus in DRK-Trägerschaft allerdings deutlich überraschender als die Klinik in Zell abgewickelt.

Frust und Enttäuschung

Viele Politiker gehen davon aus, dass die Herausforderungen durch die Migration die Menschen am meisten bewegt. Ich bin der Überzeugung, dass die Gesundheitsversorgung und insgesamt die Rückbauprozesse, von denen gerade ländliche Regionen besonders betroffen sind, für die Menschen einen mindestens ebenso hohen Stellenwert haben. Rede ich mit Menschen, sei es im Altenkirchener Raum oder an der Mittelmosel, geht es selten um das Thema Asyl und Migration. Im Vordergrund steht die drohende oder vollzogene Schließung des Krankenhauses vor Ort, der sich immer weiter verschärfende Hausärztemangel oder auch die Schließung der letzten Gastwirtschaft, der Bäckerei oder des Lebensmittelgeschäfts.

Ich unterhalte mich mit einem guten Freund und Verwandten. Wir sitzen auf der Terrasse seines Hauses, nur wenige hundert Meter vom Zeller Krankenhaus entfernt. Das Krankenhaus liegt auf dem Barl, einer Anhöhe oberhalb einer Moselschleife. Um das Krankenhaus hat sich bereits vor Jahren ein eigener Stadtteil entwickelt, der im Laufe der Jahre immer weitergewachsen ist. Frust und Enttäuschung, manchmal auch Wut würde die Menschen bewegen, berichtet mir mein Gesprächspartner. Gerade ältere Menschen hätten sich auf dem Barl niedergelassen auf Grund der Nähe zum Krankenhaus. Man hat sich gut aufgehoben gefühlt, zumal es mittlerweile auch ein Seniorenheim mit betreutem Wohnen in Krankenhausnähe gibt. Die nächsten Kliniken in Wittlich, Cochem oder Simmern sind kaum in der eigentlich vorgeschrieben Zeit von 30 Minuten erreichbar. Je nach Verkehrslage kann es deutlich länger dauern.

Ein Freund und Kollege wohnt in einer Ortschaft auf dem Hunsrück, die zur Verbandsgemeinde Zell gehört. Unterhalten wir uns über politische Themen, sind wir ganz überwiegend einer Meinung. Er ist überzeugter Sozialdemokrat. Er berichtet, dass sein Ortsverein ebenso wie viele Genossen in der Region sich engagiert für den Erhalt des Zeller Krankenhauses ausgesprochen hat. Offensichtlich dringt man noch durch bis auf die Ebene der Verbandsgemeinde. Beim Kreistag wird es schon schwieriger. Die Landes-SPD hat es sich dagegen abgewöhnt, auf die Genossen vor Ort zu hören. Jedenfalls drängt sich dieser Eindruck auf. Mir kommt das bekannt vor. Im Landkreis Altenkirchen gibt es ähnliche Effekte.

Es gibt politische Haltungen und Aktionen, die sich in vielerlei Hinsicht negativ auf unsere Demokratie auswirken können. Offenbar ist es so, dass Gutachten externer Berater zunehmend in Konkurrenz treten zu zivilgesellschaftlichem Engagement z.B. in Bürgerinitiativen. Vor der erwähnten Kreistagssitzung fand eine Kundgebung der Zeller Initiative für den Erhalt des Krankenhauses statt. In beeindruckenden Erfahrungsberichten wurde geschildert, wie durch Ärzte und Pflegekräfte des Zeller Krankenhauses Leben gerettet wurden. Bedrückend waren die Berichte von Engpässen in der Notfallmedizin, die es bereits in der Vergangenheit vielfach gab. Auch im Zeller Raum müssen mitunter Rettungssanitäter lange telefonieren, bis eine aufnahmebereite Klinik gefunden wird. Schon jetzt sind längere Anfahrtswege zu einer freien Klinik oft gesundheitsbedrohend, wenn nicht gar lebensgefährdend. Eine Staatssekretärin aus dem rheinland-pfälzischen Gesundheitsministerium verteidigt die Pläne der Landesregierung zur Neustrukturierung der Krankenhauslandschaft. Dafür gebührt ihr Respekt. Dann lässt sie sich allerdings zu der Äußerung hinreißen, dass es sich bei den geschilderten Problemen in der Notfallmedizin um bedauerliche Einzelfälle handelt. Mir fällt ob dieser Instinktlosigkeit die Kinnlade runter.

Auch im Zeller Raum erzielte die AFD bei den letzten Kommunal- und Europawahlen Ergebnisse deutlich über dem Landesdurchschnitt. In der Region um Altenkirchen ist es noch schlimmer. Dort war die AFD mit Ergebnissen vielfach über 30% in einer Weise erfolgreich, die an Sachsen oder Thüringen denken lässt. Eigentlich müssten jetzt bei allen demokratischen Parteien die Alarmglocken schrillen. Stattdessen zieht man ungerührt eigene Pläne durch und ist bemüht, kritische Stimmen aus Unternehmen, Sozialverbänden oder Bürgerinitiativen zu marginalisieren.

Das „riesengroße Westerwaldklinikum“ und die Folgen

Da gibt es in Hachenburg einen mächtigen SPD-Politiker Namens Hering, der sich mit Vehemenz für die Menschen einsetzt, die in Sichtweite der Hachenburger Kirchtürme leben. Kirchturmpolitik, wie es eindrücklicher kaum geht! Auf einem Feld zwischen Hachenburg und Müschenbach soll ein Westwaldklinikum entstehen. Mittlerweile geht man wohl von einer Kapazität von 400 Betten aus. In dieser Klinik sollen nicht nur die Häuser in Kirchen und Altenkirchen, sondern vermutlich noch weitere Standorte im nördlichen Westerwald „aufgehen“, wie man euphemistisch formuliert. Damit würden die Wege zu dieser geplanten Klinik noch weiter. Außerdem heißt dies unterm Strich, dass man insgesamt noch mehr Krankenhausbetten abbaut.

Es gibt allerdings weitere missliche Folgen. Bereits in der Vergangenheit hat der Kreis Altenkirchen gelitten. Ich denke hierbei unter anderem an meine Heimatstadt Betzdorf, in der einst Bahn und Post die größten Arbeitsgeber waren. Beide Unternehmen haben sich nahezu vollständig aus dieser Stadt zurückgezogen. Man stelle sich einmal Kirchen ohne das Krankenhaus vor! Der Verlust an Arbeitsplätzen mit den entsprechenden Folgen für den Einzelhandel oder die Gastronomie wäre zu beklagen. Dies gilt in ähnlicher Weise für Altenkirchen und andere Krankenhausstandorte, die auf der Kippe stehen. Das Ausbluten unserer Region würde sich verschärft fortsetzen.

Ein weiterer Aspekt beschäftigt mich. Als ich im Jahr 2000 in Eichelhardt meinen Dienst antrat, konnte ich meine Gemeindeglieder noch überwiegend im Krankenhaus in Altenkirchen besuchen. In den Folgejahren verteilte sich dies immer mehr. Eine Spezialisierung einzelner Kliniken findet seit Jahren statt. Wenn Seelsorge erforderlich war, machte ich Besuche von Selters bis Waldbröl, von Kirchen bis Neuwied. Das kostet Zeit und Geld, denn im Laufe der Jahre stiegen die Spritkosten eher. Nun bin ich ja nicht der einzige, der Krankenbesuche macht. Es sind vor allem Angehörig, die ihr erkranktes Familienmitglied sehr oft regelmäßig besuchen. Der Radius erweitert sich, auch Kliniken in Siegen, Koblenz, Bonn oder Köln sind mitunter Anlaufstelle für Patienten aus dem Kreis Altenkirchen. Die Folge: Diese Art der Spezialisierung und Konzentration verursachen Kosten für die Angehörigen, die ihr Familienmitglied unter erheblichem Zeitaufwand besuchen. Eine Flut an Autoverkehr wird erzeugt mit den entsprechenden CO²-Emissionen, denn im ländlichen Raum werden die Meisten bis auf Weiteres mit einem Verbrenner unterwegs sein. Auf Grund eines unzulänglichen Angebots an öffentlichen Verkehrsmitteln bleibt oft eben nur der PKW. Man redet von einer Verkehrswende und fördert im Gesundheitsbereich Entwicklungen, die schlicht eine ökologische Sauerei darstellen.

Ich frag ja nur!

Wer hätte Neigung, die Geschäftsführung eines Krankenhauses mit ca. 200 Betten im ländlichen Raum zu übernehmen? Ein gefragter Job dürfte dies kaum sein. Abgesehen davon, dass mir natürlich die Qualifikation hierzu fehlt, würde ich mich auf so ein Himmelfahrtskommando unter den jetzigen Rahmenbedingungen kaum einlassen. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 wurde der Druck auf die Kliniken zumal im ländlichen Raum erhöht. Abgerechnet wurden nicht mehr die realen Kosten, sondern es kam zu einer Budgetierung, mit der die Krankenhäuser klarkommen mussten. Außerdem kam es zu erheblichen Zuzahlungen bei Medikamenten und z.B. beim Zahnersatz. Diese Tendenz, Patienten in immer stärkerem Ausmaß zur Kasse zu bitten, was vor allem für einkommensschwache Personen schwer erträglich war, verstärkte sich in den Folgejahren. 2004 wurde im Gefolge der neoliberalen Agenda-Politik die Fallpauschalen eingeführt. Dies führte zu erheblichen Fehlsteuerungen. Immer mehr Kinderstationen und Geburtshilfen wurden abgebaut, da mit ihnen nicht die nötigen Erträge erwirtschaftet werden konnten. Aktuell dürften es kaum mehr als ein Drittel dieser medizinischen Leistungen im Vergleich zu den 80-er Jahren geben. Stattdessen wurde Deutschland zum Champignon bei Knie-, Hüft- und Rückenoperationen. Vor allem Privatpatienten unterlagen dem Risiko, das das eigentlich intakte Kniegelenk, das bei einer konservativen Behandlung durchaus noch seinen Dienst erfüllt hätte, durch ein künstliches Produkt ersetzt werden konnte. Dass dies die Kosten nach oben trieb und zugleich Kliniken im ländlichen Raum mit naturgemäß geringeren Fallzahlen in immer größere Schwierigkeiten stürzte, dürfte auf der Hand liegen.

Während der Corona-Pandemie verstärkte sich der Druck auf unsere Krankenhauslandschaft, obwohl diese immer wieder überlastet waren. Dies betraf vor allem etliche Intensivstationen. Auch das ist ein deutlicher Beleg dafür, dass mit dem bisherigen Finanzierungssystem die realen Kosten für einen Klinikbetrieb nur unzulänglich abgebildet werden. Kann es jemand verstehen, dass ausgerechnet während der Corona-Pandemie z.B. die Krankenhäuser in St. Goar und Oberwesel geschlossen wurden?

Jetzt ist eine Krankenhausreform geplant. Der Gesundheitsminister Karl Lauterbach begründet die Reform unter anderem damit, dass man die kleineren Kliniken in ländlichen Regionen erhalten wolle. Noch während Lauterbach dies im Fernsehen von sich gibt, wird das Krankenhaus in Zell geschlossen, nachdem man sich zuvor von der Altenkirchener Klinik verabschiedet hat. Ist es nicht nachvollziehbar, dass Menschen im Altenkirchener und Zeller Raum derartige Verlautbarungen als puren Hohn empfinden?

Um kurzfristiger Erfolge willen bedient man sich Methoden der Werbung. Mit einem ernsthaften, redlichen Diskurs hat dies wenig zu tun. Bei den letzten Kommunalwahlen präsentierten sich Parteien vielfach mit dem angeblichen Vorsatz, sich für eine „wohnortnahe Gesundheitsversorgung“ einzusetzen. Tatsächlich geschah das Gegenteil. Im nördlichen Rheinland-Pfalz wurden Kliniken geschlossen und Kapazitäten abgebaut. Eine Pandemie darf es einfach nicht mehr geben. Nahezu wöchentlich höre ich bedrückende Geschichten von Menschen, die endlos mit dem Rettungswagen in weit vom Wohnort entfernte Kliniken verbracht wurden. Das frustriert Menschen, zumal der Abbau von Klinikkapazitäten eben auch makroökonomische Folgen für eine Region hat. Strukturschwache Regionen werden weiter geschwächt. Die im Grundgesetz verankerte Norm, für eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu sorgen, verkümmert. So geht Vertrauen verloren. Eine von diversen Partikularinteressen deformierte Politik bedient so letztlich die Mühlen politisch extremer Strömungen und manövriert sich selbst ins Abseits. Es ist ein Fehler, wenn Akteure aus dem politischen Raum immer wieder Erwartungen wecken, die sie gar nicht erfüllen können oder wollen. So bringt man die Menschen gegen sich auf. Und dann verkündet ein rheinlandpfälzischer Gesundheitsminister auch noch, die Gesundheitsversorgung im nördlichen Rheinland-Pfalz sei „auf hohem Niveau“ gesichert. Es gäbe ja auch noch Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen. Dass für diesen Politiker und seine Partei tragische ist nur, dass viele Menschen dass ganz anders wahrnehmen. Ist die Gesundheitsversorgung im Norden von Rheinland-Pfalz einem Zusammentreffen von Grippewelle und Eis- und Schneeglätte mit den damit verbundenen Knochenbrüchen gewachsen? Ich frag ja nur!

Bereits in der Vergangenheit gab es in derartigen Situationen bedenkliche Engpässe. Was geschieht, wenn noch einmal eine Pandemie auftritt? Panikmache? Kann‘s nicht geben?

Die Resilienz unserer Gesundheitsversorgung ist aus meiner Sicht erheblich geschwächt worden. Ist sie überhaupt noch Alltagstauglich?

Wie gesagt, unter den jetzigen Rahmenbedingungen ist niemand zu beneiden, der die kaufmännische Leitung eines Krankenhauses in einer strukturschwachen ländlichen Region innehat. Und diese Rahmenbedingungen sind von der Politik gesetzt. Und die kann sich dort, wo es um die Daseinsvorsorge geht, nicht aus der Verantwortung stehlen.


Hans-Jürgen Volk

 

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